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13.09.2023

#STRATEGIEN, Förderung, Geschichte der Soziokultur, Kulturpolitik, Magazin SOZIOkultur, Verbandsnachrichten

Kultur mit Allen

Strategische Handlungsfelder des Bundesverbandes Soziokultur

Von: Ellen Ahbe und Margret Staal

Die Rahmenbedingungen für soziokulturelles Handeln sind in Bewegung. Vorstandsvorsitzende Margret Staal und Geschäftsführerin Ellen Ahbe umreißen strategische Handlungsfelder des Bundesverbandes Soziokultur.

„Wir sind herausgefordert. Und zwar bis zum Anschlag unserer Kräfte.“ So haben wir unsere Situation während des ersten Lockdowns konstatiert. Wir haben damals damit gerechnet, dass mit dem Ende der Pandemie alles wieder einfacher wird. Heute, drei Jahre später, stellen wir fest: Die Herausforderungen sind uns erhalten geblieben, neue kommen hinzu. Und: Die Akteur*innen der Soziokultur haben weit größere Kräfte mobilisiert, als manch eine*r das für möglich hielt. Diese Fähigkeit werden wir weiterhin brauchen.

Der Anspruch der Soziokultur: Partizipation!

Soziokultur hat nicht hauptsächlich ein Geben und Nehmen im Blick, wie „Kultur für alle“ oder „Kultur von allen“ es nahelegen, sondern das miteinander aktiv sein. Einer ihrer zentralen Ansprüche war von jeher und ist jetzt stärker denn je: Partizipation. Es geht hier um weit mehr als den Ausgleich von Nachteilen, die aus Bildungsferne, sozialer Unterprivilegiertheit oder Migration entstehen.

Seit Mitte der 2010er Jahre beobachten wir rasch steigendes Konfliktpotential und das Entstehen von Gräben in der Gesellschaft, über die hinweg immer häufiger fast nicht mehr geredet werden kann.

Als sich vor einem halben Jahrhundert die ersten soziokulturellen Zentren gründeten, stand auf der Tagesordnung, Grundsätze und Eckpunkte einer alternativen Kultur zu formulieren. Das Recht auf die Gestaltung der Gesellschaft und auf kulturellen Selbstausdruck war als Alternative gegen den noch herrschenden Kulturkonservatismus zu behaupten. Die Linien der damals zum Teil heftigen Auseinandersetzung nehmen sich im Nachhinein übersichtlich aus.

Dynamik statt Zustand

Inzwischen fanden und finden im Ergebnis sukzessiver Prozesse viele Änderungen statt: So traten Minderheiten aufgrund sexueller Prädispositionen, Beeinträchtigungen und anderem stärker ins Bewusstsein, ohne dass ihre Gleichstellung bislang vollständig erreicht ist. Jenseits von oben und unten haben sich unterschiedlichste professionelle, soziale und digitale Milieus ausdifferenziert. Arbeitsmigration und Flucht erweitern das kulturelle Spektrum besonders in den Großstädten erheblich, während die Infrastruktur in ländlichen Räumen verkümmert.

Hinzu kommen die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine und die ersten Ausläufer der Klimakatastrophe als disruptive Ereignisse. Es wird absehbar kein Zustand eintreten, der wenigstens in groben Zügen bleibt, wie er ist. Die weiter zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Problemstellungen erscheint vielen unheimlich. Und sie reagieren darauf nicht selten mit Rückschritten in alte Weltsichten, Feindbilder oder Geschlechterklischees, bis hin zur billigenden Inkaufnahme oder Unterstützung rechtsextremer Positionen.

Wir spüren täglich, dass Demokratie nichts ist, was uns, einmal geschaffen, einfach so erhalten bleibt. Es hilft nicht wirklich, immer wieder verbal ihren Wert zu beteuern, sich in selbstreferentiellen Bubbles gegenseitig der gleichen richtigen Meinung zu versichern oder sich vom Geschrei anderer abzugrenzen. Das ist ja am Ende auch nur hörbarer Ausdruck von fundamentaler Sprachlosigkeit. Der Soziokultur erwächst daraus als langfristige Aufgabe, gerade unter diesen komplizierten Bedingungen über die Konfliktlinien und Gräben hinweg Kommunikation und Interaktion zu ermöglichen.

Gerade unter den komplizierten Bedingungen muss Soziokultur Kommunikation und Interaktion ermöglichen.

Kunst der Moderation: Soziokultur gelingt es, die Kommunikation wieder zu beleben. Die Basis der Demokratie!

Akteur*innen der Soziokultur und Engagierte vor Ort zeigen, dass das geht. Die sächsische Stadt Bautzen zum Beispiel spielt mit ihren seit Jahren anhaltenden wütenden Montagsdemos und Wahlerfolgen für Rechtsextreme auch in überregionalen Medien eine Rolle. Unter dem Namen „Bautzen gemeinsam“ engagiert sich hier ein Netzwerk der Zivilgesellschaft für ein positives Miteinander.

Das soziokulturelle Zentrum Steinhaus Bautzen gehört dazu. Regelmäßig bringt „Bautzen gemeinsam“ die besonders emotionsgeladenen Inhalte von Transparenten und Sprechchören aufs Tapet, das heißt: im Dom Sankt Petri zur Sprache. Wer die Verfassung respektiert, Abstand von Extremismus wahrt und sich an Grundregeln des gegenseitigen Umgangs hält, kann hier seine Meinung offen oder auch anonym vortragen und ernsthaft diskutieren, so provokativ sie im Einzelfall sein mag. Leute, die sich auf Demos und Gegendemos angebrüllt haben, reden tatsächlich miteinander über schwere Steine des Anstoßes. Ende Juni dieses Jahres hieß das Thema: „Boot voll. Grenzen dicht!?“.

Akteur*innen der Soziokultur haben ein feines Gespür dafür, mit welchen Projekten sie einen positiven Unterschied für das Zusammenleben machen können.

Torsten Wiegel, Vorsitzender des Landesverbands Sachsen und Geschäftsführer des Steinhaus Bautzen, stellt fest: Es gibt jetzt nicht die schillernden Beispiele für grundsätzlich gewechselte Positionen. Aber die Debatte wird sachlicher und die Atmosphäre im Raum ist erstaunlich konstruktiv. Ziele, die gemeinsam ins Auge gefasst und erreicht werden können, scheinen nicht mehr völlig unmöglich. Er sagt auch: Diese Gespräche vorzubereiten und zu moderieren erfordert gutes Handwerk, eine eigene Qualifikation.

Vorläufig gerettet

Akteur*innen der Soziokultur haben ein feines Gespür dafür, mit welchen Projekten sie einen positiven Unterschied für das Zusammenleben in den Gemeinden und Stadtquartieren machen können. In den Einfallsreichtum und Elan, mit denen sie ihre Vorhaben entwickeln, in die strategische Flexibilität und Ausdauer, mit denen sie sie realisieren, kann diese Ausgabe der SOZIOkultur zum Thema STRATEGIEN nur einen kleinen Einblick geben.

Bevor Akteur*innen der Soziokultur sich für irgendetwas engagieren, müssen erst einmal ihre Initiativen und Einrichtungen grundgesichert sein und funktionieren. In der Pandemie reichte der Bundesverband rund 80 Millionen über die NEUSTART-Förderprogramme aus. Doch wie geht es nach der Pandemie weiter?

Die Pandemie hat die bislang größte existenzielle Bedrohung für den ganzen Bereich der Soziokultur dargestellt. Um eine Schließungswelle zu verhindern, legte die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) zunächst das NEUSTART Sofortprogramm und kurz darauf das Programm NEUSTART KULTUR auf. In ihrem Auftrag reichte der Bundesverband Soziokultur rund 80 Millionen Euro Fördermittel für mehr als 2.000 Vorhaben von soziokulturellen Zentren und Initiativen, Kultur- und Literaturhäusern weiter.

Die Fördermittel flossen sowohl in technische und IT-Ausstattung als auch in die Entwicklung und Durchführung zukunftsweisender Programmarbeit. Für die Antragstellung selbst wie auch für die Mittelverwendung gab und gibt es hohen Beratungsbedarf. Der Bundesverband ist diesem mit persönlichen Beratungen, Austauschrunden, Video-Tutorials und Vor-Ort-Beratungen begegnet und hat damit hohe Wertschätzung bei den Antragsteller*innen gewonnen. Jetzt ist die Pandemie erst einmal vorbei. Die erste Ausschreibungsphase von NEUSTART KULTUR ist seit Ende Juni abgeschlossen, die zweite läuft zum Jahresende aus.

Viele soziokulturelle Einrichtungen befinden sich in einer kritischen Situation, denn sie sind mit bedrohlichen Finanzierungslücken konfrontiert.

Akute Nöte

Aus zahlreichen Gesprächen und Umfragen wissen wir: Viele soziokulturelle Einrichtungen befinden sich nach dem Ende der Pandemie nicht in einer leichteren, sondern in einer kritischen Situation, denn sie sind mit bedrohlichen Finanzierungslücken konfrontiert. Die ohnehin meist unterfinanzierte Szene ist durch multiple Faktoren derzeit so belastet wie noch nie. Die Energiekrise und die Inflation sind untragbare Kostentreiber. Gleichzeitig fallen immer noch Einnahmen aus. Die Furcht vor großen Menschenansammlungen scheint einem beträchtlichen Teil derjenigen, die vor der Pandemie bei Einzelveranstaltungen die Säle füllten, noch in den Gliedern zu stecken.

Um gerade in sozial gestressten Quartieren und strukturschwachen Gebieten die so dringend benötigten Kontakte und Interaktionen dennoch aufrecht zu erhalten, bleibt der Weg der kleineren Gruppen, die durch aufsuchende und kontinuierliche Angebote erreicht werden. Mit diesen lässt sich aber nicht sparen. Sie bedeuten im Gegenteil: höheren personellen und finanziellen Aufwand.

Es ist und bleibt eine der wichtigsten Aufgaben des Bundesverbandes, immer wieder auf die unverzichtbaren Leistungen der Soziokultur für ein demokratisches Gemeinwesen hinzuweisen, diese in Daten, Fakten, Zahlen, Erzählungen und Bildern im politischen Raum sichtbar zu machen und dort Unterstützung für die Akteur*innen und ihre Projekte zu gewinnen.

Konkrete Utopie ...

In diesem Herbst 2023 endet nach vier Jahren auch das Projekt UTOPOLIS. Es wurde im Rahmen des Förderprogramms „Soziale Stadt“ von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie dem Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen ermöglicht. Seine Aufgabe bestand darin, mit soziokulturellen Zentren neue, kreative Beteiligungsformate zu entwickeln und zu erproben, die dem Zusammenleben gerade in herausfordernden Quartieren nützen.

... und Anschlussfinanzierungen für einen großen Teil der Projekte

Teil der Aufgabe war es auch, Anschlussfinanzierungen auf die Beine zu stellen, damit die Projekte nach Ablauf des Förderzeitraums fortgesetzt werden können. Unter dem Dach von UTOPOLIS haben sich bundesweit an 16 Standorten Akteur*innen in Bewegung gesetzt. Für acht Standorte ist der Förderzeitraum bereits abgeschlossen. Es spricht für den Erfolg und die Ergebnisse von UTOPOLIS, dass für sechs davon die Arbeit mit kommunaler Förderung weitergeht.

Die Hauptsache ist, mit den UTOPOLIS-Projekten wurde und wird täglich gezeigt: Soziokultur tut dem gesellschaftlichen Klima in Städten und Gemeinden gut. Dass das zunehmend von Politik und Verwaltungen bemerkt wird, stimmt optimistisch.

Agenda

Um der gesellschaftlichen Verantwortung der Soziokultur gerecht zu werden, muss der Bundesverband in den kommenden Jahren komplexe Aufgaben bewältigen.

Alle wichtigen Themen sind anspruchsvoll: Inklusion und Integration, die Arbeit mit Geflüchteten, die Erzielung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die Schaffung von kulturellen Angeboten in ländlichen Räumen, die sozial-ökologische Transformation. Bei keinem davon ist es mit Hauruck-Aktionen getan. Sie fordern langfristiges Handeln. Das gleiche gilt für den gesamten Komplex der Nachhaltigkeit im Kulturbereich, an dem wir seit mehreren Jahren intensiv arbeiten.

Es gilt für den Wissens- und Erfahrungstransfer, den wir im Zuge des Generationenwechsels leisten müssen, ebenso wie für die Gestaltung des digitalen Raums für die und mit der Zivilgesellschaft. Fördermittel von NEUSTART KULTUR wurden für die Ausstattung der Einrichtungen mit moderner digitaler Technik genutzt. Jetzt sind Anstrengungen gefragt, um die vielfach von Ehrenamt getragenen Zentren so zu qualifizieren, dass sie in der Lage sind, die neue Technik zu bedienen.

Die soziokulturellen Akteur*innen sind gemeinsam in der Lage, die Kraft und den langen Atem aufzubringen, die zur Lösung der großen Aufgaben nötig sind.

Ob wir Akteur*innen uns in der Nachhaltigkeits-AG, in Mitgliederversammlungen, Zukunftskonferenzen oder Gremiensitzungen treffen – wir spüren immer, dass wir gemeinsam in der Lage sind, die Kraft und den langen Atem aufzubringen, die zur Lösung unserer großen Aufgaben nötig sind. Daran wird nichts scheitern.

Jedoch: Im Bundeshaushalt wird unser Verband von Jahr zu Jahr wie eine temporäre Erscheinung behandelt. Das ist aus der Zeit gefallen. Wir brauchen institutionelle Förderung.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in der SOZIOkultur 3/2023 Strategien

Autor*innen

  Margret Staal Vorstandsvorsitzende Bundesverband Soziokultur e.V. margret.staal@soziokultur.de

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