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15.04.2024

Geschichte der Soziokultur

Widergewinnung des Ästhetischen. Wie die Soziokultur seit 50 Jahren unser Verständnis von Kultur verändert

Man muss sich Nürnberg als gediegene Stadt vorstellen, in die 1973/74 jäh der Ungeist der neuen Zeit hineinfuhr: Als im alten Künstlerhaus in zentraler Lage am Bahnhof ein „Kommunikationszentrum“ einzog, das bald alle nur noch KOMM nannten, fürchteten nicht wenige Einwohner mit freundlicher Unterstützung der lokalen CSU um die bürgerliche Kultur Mittelfrankens. Mit dieser hatte das KOMM denkbar wenig im Sinn. Im Gegenteil: Kultur, wie dieses Zentrum sie betrieb, war all das, was die etablierten Kulturorte nicht haben wollten: Gegen-, Jugend- und Subkulturen, und überhaupt alle möglichen Formen und Veranstaltungen, die mit der Kultur der städtischen Museen, Konzerthäuser und Theater nichts bis gar nichts gemein hatten.

„LSD – Lieder, Songs und Diskussionen“ im KOMM

Hier gab es Tanz und Theater jenseits der Konvention, Handwerk, schrille Musik, die in den Ohren schmerzte, politische Veranstaltungen mit Titeln wie „LSD – Lieder, Songs und Diskussionen“, alternative Film- und Fotoprojekte, Senioren- und Migrantentreffs.  Hier trafen sich haufenweise junge Menschen, die sich, statt auf gepolsterten Konzertsesseln zu sitzen und zuzuhören, lieber auf Treppenstufen herumfläzten und die Nacht durchdiskutierten. Und dann die langen Haare, ordinären Klamotten und der süßliche Duft selbstgedrehter Tüten... Dass das Ganze nicht obrigkeitlich gelenkt, sondern selbstverwaltet war, machte es nicht besser.

Offen für alle und alles und obendrein direkt am Bahnhof

Das KOMM war offiziell eine „städtische Dienststelle besonderer Art“. Konkret hieß das: Die Stadt verlangte keine Miete, zahlte Zuschüsse und trug die Verantwortung, ließ gleichzeitig aber die jungen Leute um den Kunstpädagogen Michael Popp weitgehend machen. Da man offen für alle und alles und obendrein direkt am Bahnhof war, sammelten sich um das KOMM nicht nur Künstler, sondern viele gesellschaftliche Randgruppen wie Anarchisten, Junkies oder Obdachlose, weshalb es immer mal wieder krachte und zuweilen die Polizei zugriff. Der Ruf war bald ruiniert bzw. etabliert, „weil die da drin hashen und so“, wie ein Nürnberger Mädchen zu berichten wusste. Kurzum: Die Kultur, die sich hier zeigte, passte weder ästhetisch noch sozial zu dem, was ein Großteil des Bürgertums vor 50 Jahren zu akzeptieren bereit war. Kultur als das „Wahre, Schöne und Gute“ jedenfalls stellte es sich deutlich anders vor.

Der Untertitel des kulturpolitischen Manifests „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen“ enthielt das Schlagwort, das von da an einer alternativen Kulturpolitik ihren Markennamen geben sollte: „Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur“.

Dass das KOMM ausgerechnet im erzkonservativen Bayern des CSU-Landesverwesers Alfons Goppel entstehen konnte, lag vor allem an Nürnbergs Kulturreferenten Hermann Glaser, 46 Jahre alt, SPD. Glaser war einer der großen Kulturvisionäre der Bundesrepublik und Ideengeber hinter dem KOMM. Pünktlich zu dessen Eröffnung brachte er 1974 zusammen mit dem Medienwissenschaftler Karl Heinz Stahl das kulturpolitische Manifest „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen“ auf den Markt. Der Untertitel enthielt das Schlagwort, das von da an einer alternativen Kulturpolitik ihren Markennamen geben sollte: „Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur“.

Soziokultur im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen

Soziokultur: Das war einerseits eine kulturelle Praxis, eine bestimmte Art, Kunst und Kultur zu machen: freies Theater im öffentlichen Raum, selbstverwaltete Clubs und Programm-Kinos, Kunstaktionen in alten Fabrikhallen, Frauenarchive oder Kulturarbeit mit Jugendlichen und Migranten. Solche alternativen Ästhetiken und Kulturprojekte jenseits des Bürgerlichen gab es schon länger: in der Bohème und den Avantgarden, in den Sezessionen und der reformpädagogisch inspirierten Kunstpädagogik um 1900 und in der DDR. Aber erst im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen um und nach 1968 trafen sie in Westdeutschland auf eine Gesellschaft, die sich langsam dafür zu öffnen begann und auf Politiker, die dafür Geld bereitstellten.

So wertete die Soziokultur Kulturformen auf, die bis dato einem bildungsbürgerlich geprägten Publikum als minderwertig galten und erschütterte den Kanon der Hochkultur.

Jetzt entwickelte sich Soziokultur zu einem (linken) politischen Programm, das die Theorie zur Praxis lieferte und bestrebt war, die in Jahrhunderten mühsam dem Alltag enthobene deutsche Kultur wieder zurück auf die Erde zu bringen. Soziokultur wollte das, was als Kultur galt und wofür Kultur zuständig sein sollte, grundlegend neu definieren: Diese Kultur war nicht mehr rein aufs Ästhetische reduziert, exklusiv auf ästhetisch gebildete Kulturbürger und hauptberufliche Künstler zugeschnitten, und sie strebte auch nicht nach Distinktion, um sich von anderen Schichten abzugrenzen. Statt dessen war sie denkbar breit angelegt, akzeptierte Laien-, Breiten- und Populärkultur, die das Kulturestablishment mit hoch gezogenen Augenbrauen wacker ignorierte. So wertete sie Kulturformen auf, die bis dato einem bildungsbürgerlich geprägten Publikum als minderwertig galten und erschütterte den Kanon der Hochkultur.

Rubrum „Kultur für alle“

Freilich war sie ähnlich beseelt von der Idee einer Erziehung des Menschen durch Ästhetik wie das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts, denn Soziokultur wollte Gesellschaftspolitik betreiben: „Im Mittelpunkt soziokultureller Bildungsarbeit“, postulierten Glaser und Stahl, „hat die Erziehung zur Politik zu stehen, zur Fähigkeit, Umwelt reflektierend wahrnehmen und agierend gestalten zu können.“ Nur so könne der Mensch sich in die Gesellschaft einbringen, nur so sei er befähigt zu politischer Teilhabe: „Der Wiederherstellung der Politik muß die Wiederherstellung des Ästhetischen zur Seite treten, damit die weitgehend vernachlässigten oder zerstörten Voraussetzungen für menschliches Zusammenleben rekreiert werden. Kultur soll die Augen öffnen, die Welt so zu erleben, wie sie ist, und zugleich die Welt gestalten helfen, wie sie sein sollte.“ Damit war der gleichermaßen an Schiller wie an Kritischer Theorie geschulte Ton gesetzt für das Programm einer „Neuen Kulturpolitik“, das der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann unter dem Rubrum „Kultur für alle“ weiter ausbuchstabieren sollte.

Die Soziokultur verschob die Wertkriterien von der bürgerlichen Ästhetik zur sozialen Wirkung in der Gesellschaft.

Soziokultur war nahbar und in der Mitte des Lebens mit all seinen Problemen angesiedelt. Ästhetik galt ihr als Mittel zum politischen Zweck, nicht als Selbstzweck. Dem Anspruch nach „demokratisch“, sollte Soziokultur alle Menschen (und nicht nur eine kleine Elite von Kennern und Könnern) beteiligen und sie zu selbständiger kreativer Arbeit anleiten. So wollte sie die Bürger sensibler und empfindsamer machen, auf dass sie sich in die Politik einmischten, weil sie sich ihrer Bedürfnisse bewusst waren und diese künstlerisch und verbal artikulieren konnten. Von der Idee einer vermeintlich unpolitischen Kunst in Namen eines alltagsfernen „interesselosen Wohlgefallens“ (Kant) war das denkbar weit entfernt. So verschob Soziokultur die Wertkriterien von der bürgerlichen Ästhetik zur sozialen Wirkung in der Gesellschaft.

Sie verstand und versteht sich bis heute als engagiert, inhaltlich vielfältig, basisdemokratisch organisiert, gemeinnützig, partizipativ und pocht auf permanente „Transformation“, um agil zu bleiben.

Das entsprach so ziemlich genau dem Gegenteil von „affirmativer Kultur“. Mit diesem Begriff hatte der marxistische Philosoph Herbert Marcuse seinerzeit die dominante bildungsbürgerliche Kultur belegt. Ihr warf er vor, den Menschen von seinem vermeintlichen Elend – seiner „Entfremdung“ im arbeitsteilig organisierten Kapitalismus – abzulenken und zu versuchen, die Bevölkerung mit dem herrschenden System zu versöhnen (daher affirmativ), statt sie zu befähigen, ihre prekäre Lage zu erkennen und dagegen aufzubegehren. Soziokultur wollte genau das: Bewusstsein schaffen, die Menschen aufrütteln und wach machen, sie gegen politische Apathie und Desinteresse wappnen. Soziokultur, das war „Phantasie statt Lethargie“, wie es in großen Lettern auf einer Wand im KOMM stand. Sie verstand und versteht sich bis heute als engagiert, inhaltlich vielfältig, basisdemokratisch organisiert, gemeinnützig, partizipativ und pocht auf permanente „Transformation“, um agil zu bleiben.

Kulturarbeit ist (auch) Gesellschaftspolitik

Damit war und ist sie überaus erfolgreich. Werte wie Teilhabe, kulturelle Bildung, die Öffnung zur Alltagskultur oder Diversität, für die Soziokultur früh einstand, sind längst als politische Imperative ins Pflichtenheft der etablierten Museen, Theater und Konzerthäuser eingegangen. Was vor 50 Jahren unerhört war, wird heute mit großer Selbstverständlichkeit bejaht (wenngleich nur bedingt umgesetzt): Kulturarbeit ist (auch) Gesellschaftspolitik. Dieses Umdenken ist freilich nicht allein Verdienst der Soziokultur, sondern folgte einer Verschiebung, die sich international seit den 1970er Jahren vollzieht, in diversen UNESCO-Erklärungen abbildet und in Großbritannien im Mantra der Social Inclusion wohl am tiefsten ins Kultursystem eingeschrieben hat. Eine solche „Transformation“ treibt heute eine neoliberale Politik weiter voran, die Kultur an ihrer „gesellschaftlichen Relevanz“ misst. Sie hat sich auch vormals rand- und widerständige Kulturformate einverleibt.

Die symbolische Anerkennung für die Soziokultur ist also da, die materielle in der Regel nicht.

Soziokultur ist inzwischen weniger ein eigenständiges Reformprogramm jenseits des Staates, sondern etliche ihrer Theatergruppen, Kinos und Zentren, die kulturelle Kinder- und Jugendarbeit oder die Geschichtswerkstätten haben sich in den etablierten Kulturbetrieb hineingearbeitet. Sie sind Teil der kommunalen und staatlichen Kulturförderung geworden. Die symbolische Anerkennung ist also da, die materielle in der Regel nicht. Das Gefälle zur etablierten Hochkultur ist unübersehbar: Im Vergleich zu dieser bewegen sich die Zuwendungen für Soziokultur aus Steuergeldern im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Nur jede zehnte Stelle hier ist unbefristet und sozialversicherungspflichtig. Viele arbeiten ehrenamtlich, prekär oder in Teilzeit. Die Hälfte des Umsatzes muss Soziokultur im Schnitt selbst erwirtschaften, in der Regel aus befristeten Projektmitteln. Langfristig abgesicherte Arbeit ist so kaum möglich. Deshalb verbuchte es die Szene als großen Erfolg, dass Hessen seine jährliche Förderung für Soziokulturzentren seit 2016 auf mittlerweile fast 2 Mio. Euro vervierfacht und auf langfristige Strukturförderung umgestellt hat.

Kultur ist mit ihr definitiv schichtübergreifender, unkonventioneller und bunter geworden.

Der Argwohn der etablierten Kulturinstitutionen ist der Soziokultur damit sicher, schließlich konkurriert man um dieselben Gelder. Übel genommen wird ihr auch, dass sie den vormals so schön klaren Kanon an förderungswürdiger (Hoch-)Kultur ausgedehnt und die ästhetisch begründeten Qualitätsmaßstäbe des Bildungsbürgertums aufgeweicht hat. Kultur ist mit ihr definitiv schichtübergreifender, unkonventioneller und bunter geworden. Damit trug sie aber auch ihren Teil bei zu postmoderner Beliebigkeit, die neben Nutzen auch Orientierungsverlust stiftete.

Und in Zukunft?

Nach 50 Jahren stehen viele soziokulturellen Projekte nun vor einem Umbruch. Die Generation der Gründer und frühen Mitstreiter tritt ab, Nachfolger sind nicht immer in Sicht. Wo die öffentliche Hand nicht übernimmt, werden sich die Reihen lichten – selbst wenn die Lücken groß sein könnten. In Nürnberg wurde das KOMM bereits 1996 geschlossen, nachdem die CSU die Stadtregierung übernommen und sich mit dem Zentrum auf keine Zusammenarbeit einigen konnte. Das ehemalige Künstlerhaus firmiert heute zusammen mit anderen kommunalen Einrichtungen unter dem Namen KunstKulturQuartier. Es ist weiter ein lebendiger Ort der freien Szene. Selbstverwaltung und Subkulturen allerdings hat es hier hinweggerafft.

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Thomas Thiemeyer ist Professor für Empirische Kulturwissenschaft am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen

 Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht am Samstag, den 23. März 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 71

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