Trotz der breiten medialen Konkurrenz haben gehörte Geschichten dauerhaft Konjunktur. Auch in den Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften reagiert man auf den Audiotrend und erkundet die Vielfalt, das Potenzial und die Besonderheiten auditiver Formate.
Seit der Blütezeit in den 1950er Jahren gehört der Abgesang auf das Genre „Hörspiel“ fast schon zu seinen Wesensmerkmalen. Doch trotz der Konkurrenz durch Fernsehen, Game Boy oder Internet haben auditive Texte dauerhaft Konjunktur. Neben den Hörspielen belegen Lesungen, Podcasts, Audioguides, Audiowalks und elektroakustische Experimente die Vielfalt gehörter Geschichten. Sie widersprechen so der Annahme, dass Hörformate vom Leit- zum Begleitmedium degradiert wurden. Im Gegenteil vertrauen Menschen zum Beispiel in Krisensituationen – von Nine Eleven über Umweltkatastrophen bis zur Corona-Pandemie – verstärkt auf das als verlässlicher und authentischer geltende Radio oder Podcasts, wie der Erfolg Christian Drostens veranschaulicht. Sicher auch im impliziten Wissen um die Manipulierbarkeit von Foto und Video gibt man dem Auditiven im medialen Vergleich den Vorzug. (...)
‚Auditiv‘ fokussiert also nicht nur das akustische Phänomen als solches, sondern auch, wie es sich präsentiert und wie Menschen es wahrnehmen und erleben. Durch die verfügbar gewordenen medialen Reproduktionstechnologien verändert sich der Konsum von Audioangeboten im Alltag. (...)
Hören ist nicht gleich Hören, wenn man gleichzeitig sieht.
Im deutschsprachigen Raum wird frühes ‚pures‘ Hören deshalb vom Kindesalter an von institutioneller Seite bestärkt und gefördert. Grund ist die Annahme, dass die Fähigkeit zum gezielten Zuhören auch die späteren Lese- und Schreibfähigkeiten der Kinder beeinflussen kann. Vor allem das Hörspiel ist hier zu nennen. Es animiert nicht nur zum Lauschen, sondern kann auch schon mit einfachsten Mitteln in Kitas und Grundschulen selbst produziert werden. Die Stiftung Zuhören und das Angebot „Ohrenspitzer“ unterstützen die Einrichtung von Hörclubs an Grundschulen und stellen umfangreiches Lehrmaterial zur Verfügung. (...)
Neben Hörspielen und Hörbüchern haben sich auch Audioguides und Audiowalks einen festen Platz errungen, wie exemplarisch die App Storydive belegt. Während Audioguides meist in einem didaktischen Kontext stehen, indem sie beispielsweise Museumsführungen individualisieren, existieren Audiowalks in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Außer Stadtspaziergängen, die etwa historische oder politisch-kritische Inhalte vermitteln, haben sich zuletzt auch die Theater vermehrt mit der Form des Audiowalks beschäftigt und insbesondere seit den coronabedingten Schließungen im Frühjahr 2020 literarische Texte als Audiowalks adaptiert. Dabei können sich Menschen mit Mobiltelefon und Kopfhörer auf den Weg in eine Geschichte begeben. (...)
Der besondere Reiz von Audiowalks, einem Genre zwischen Hörspiel und Theater, besteht sicher darin, gleichsam in den literarischen Text einzutreten, zu einer Figur der Handlung zu werden und die gehörte Geschichte mit den realen Bildern in eine Verbindung zu bringen, die beim nächsten Mal wieder anders ausfallen kann. Solche Hörspaziergänge können aber auch dazu führen, vertraute Orte ganz neu in einem historischen oder fiktionalen Kontext zu erleben. (...)
Hören ist kollektiv und zugleich privater als die audiovisuelle Medienrezeption, zudem in Form von Horchen und Lauschen produktiv.
Menschen können durch das Hören also angesprochen und aktiviert werden, weil die Vielfalt der Formate sie in einer personalisierten Soundscape erreicht. Hören ist kollektiv und zugleich privater als die audiovisuelle Medienrezeption, und in Form von Horchen und Lauschen produktiv. Zudem lassen sich Audioformate niedrigschwelliger selbst produzieren. Genau diese Kombination bietet – neben dem primären Hörgenuss – viele Chancen für die kulturelle Arbeit, die vom Training individueller Reflexionsfähigkeit über institutionelle Stärkung der Hörwahrnehmung bis hin zu Edutainment ganz verschiedene Bildungskonzepte umfasst.
Text (gekürzt): Andreas Wicke, Ina Schenker, Nils Lehnert
Beitrag in voller Länge in der SOZIOkultur 2/2023 Audio