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26.01.2024

#DIGITALITÄT, Magazin SOZIOkultur, UTOPOLIS

Bye bye UTOPOLIS!

Über fünf Jahre Programm, digitale Spuren und das, was bleibt

Von: Kristina Rahe

UTOPOLIS vor dem inneren Auge: Ein Beduinenzelt, umgeben vom tosenden Wuppertaler Verkehr, in dem Anwohner*innen bei einem Glas Tee auf die Suche nach gemeinsamen Oasen gehen. Zwei rote Sessel mitten im Park der Hildesheimer Nordstadt, die einladen, Anekdoten aus dem persönlichen Alltag für einen Podcast beizusteuern. Ein Klangspielplatz an einer Straßenkreuzung in Lübbenau, an der Passant*innen spontan Worte, Töne und Geräusche ins Mikrofon rufen. – All diese Aktivitäten geben der Nachbarschaft eine Stimme und motivieren, die eigenen Geschichten und Nöte, Träume und Ideen zu erzählen und sich so aktiv an der Gestaltung des Stadtteils und seiner kulturellen Angebotsstruktur zu beteiligen.

16 Standorte, 5 Jahre, partizipativ und demokratisch

Genau dies war die Zielsetzung des Bundesprogramms „UTOPOLIS – Soziokultur im Quartier“, das von 2018 bis 2023 im Rahmen der ressortübergreifenden Strategie „Soziale Stadt – Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“ von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur für Medien sowie dem Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen finanziert und vom Bundesverband Soziokultur inhaltlich und administrativ begleitet wurde. In bis zu fünfjährigen Entwicklungsprozessen erprobten bundesweit 16 soziokulturelle Zentren in ihren Stadtteilen neue kreative Beteiligungsformate. Im Fokus standen die Fragen: Inwiefern kann mit Kunst und Kreativität das Leben im Stadtteil freundlicher gestaltet und zukunftsorientiert ausgerichtet werden? Wie können insbesondere auch diejenigen Bewohner*innen erreicht werden, die sich in den bestehenden kulturellen Angeboten bisher nicht wiederfinden?

Das Hauptaugenmerk lag darauf, partizipativ und bürger*innennah die Bedarfslagen im Quartier zu ermitteln und unterschiedliche Anwohner*innengruppen einzubeziehen, um künstlerische Angebote zu entwickeln. Dies hat an fast allen Standorten ermutigend gut funktioniert. Was waren nun die Faktoren, die – neben dem unermüdlichen Engagement der Projektakteur*innen vor Ort – zum Erfolg beigetragen haben? Nicht nur pandemiebedingt haben auch digitale Formate eine Rolle gespielt.

Ernstgemeinte Partizipation

In ersten Aktionen ging es darum, an stark frequentierten öffentlichen Orten auf das Programm und seine Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Niedrigschwellige künstlerische Formate sammelten erste Stimmungsbilder und Erwartungen der Bewohner*innen und weckten die Neugier. Dabei kamen die Projekte mit aufrichtigem Interesse an Themen und Problemlagen zu den Menschen und nicht umgekehrt.

Die Herausforderung von Beteiligungsprozessen ist, dass oft vor allem diejenigen erreicht werden, die ohnehin schon engagiert sind. Bevölkerungsgruppen, die sich ausgeschlossen fühlen, gestalten ihren Lebensraum nicht unbedingt aktiv und selbstbestimmt mit. Das Gefühl des Abgehängtseins, des Nicht-dazu-Gehörens erzeugt eher Spannungen und kann dazu führen, dass Diversität im Wohnviertel als Bedrohung empfunden wird. Hier haben die Projekte von Anfang an Wege gesucht, wie die Nachbarschaft in all ihrer Heterogenität erreicht und mitgenommen werden kann. Über gemeinsame Aktivitäten und Teilhabe an Angeboten konnte das „Wir-Gefühl“ gestärkt werden. Kunst und Kultur wirkten als Türöffner und bestärkten und ermutigten die Menschen, sich mit ihrem Stadtteil und dem nahen Wohnumfeld auseinanderzusetzen. Nachbar*innen lernten Geschichten und Sichtweisen voneinander kennen und konnten so Verständnis fürei- nander entwickeln und Vorurteile abbauen. Vorschläge mündeten in konkrete Maßnahmen und Schritte.

Die Projekte kamen mit aufrichtigem Interesse an Themen und Problemlagen zu den Menschen. Und nicht umgekehrt.

Gute Rahmenbedingungen

Anliegen von UTOPOLIS waren insbesondere die Annäherung schwer erreichbarer Zielgruppen an den Stadtteil, die Vermittlung der Zusammenhänge und Möglichkeiten im Sozialraum sowie die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmenden. Häufig bedeutete dies eine langwierige Beziehungsarbeit. Positiv war, dass durch die mehrjährige Laufzeit der Projekte Schritt für Schritt Vertrauen aufgebaut und mit Formaten experimentiert werden konnte. Eine große Rolle spielte, dass die Zentren sich unmittelbar in der Nachbarschaft derer befanden, die sie adressieren wollten. Dicht dran an den Themen und Herausforderungen im Stadtteil und selbst Ort der alltäglichen Begegnung konnten sie so mit ihren Räumen längerfristige Anlaufstellen bieten.

Kontinuität wurde auch dadurch gewährleistet, dass Personal für die Vernetzungsarbeit gefördert wurde, was eine verlässliche Begleitung und eine kompetente Moderation der Prozesse mit fortwährender Themenermittlung und bedarfsorientierter (Um)Steuerung ermöglichte. Die beteiligten Zentren konnten auf langjährig gewachsene Netzwerkstrukturen zurückgreifen und diese durch das Projekt vertiefen und erweitern. Neben kulturellen und sozialen Organisationen gehörten Gewerbetreibende und Wohnungsgesellschaften ebenso wie Jugendzentren, Seniorenheime, Kitas, Schulen, kommunale Verwaltungen und insbesondere das Quartiersmanagement zu den wichtigen Partner*innen.

Durch die mehrjährige Laufzeit konnte Schritt für Schritt Vertrauen aufgebaut werden.

Digitaler Transfer

Um das Rad trotz modellhafter Erprobung nicht immer wieder neu zu erfinden, kam dem bundesweiten Transfer von Erfahrungen eine wesentliche Bedeutung zu. Neben Quartiersbesuchen, Netzwerktreffen und Konferenzen in Präsenz tauschten sich die Projektakteur*innen regelmäßig online aus und beschrieben auf der Website in Blogbeiträgen, Videoclips und einer Toolbox die erprobten Formate rezeptähnlich zum Nachmachen.

Doch nicht nur beim Wissenstransfer, sondern auch in der alltäglichen Umsetzung vor Ort spielte Digitalität eine Rolle. Hier war die Pandemie ein Motor, Angebotsformen zu entwickeln, um mit der Nachbarschaft in Kontakt zu bleiben. Es entstanden Online-Workshops und Video-Tutorials, teilweise von Jugendlichen aus dem Quartier angeleitet, denen dafür in den Projekten das notwendige Handwerkszeug vermittelt wurde. Mit Kulturbeuteln voller Gestaltungsmaterialien wurden, zum Beispiel in Seniorenheimen über Sozialarbeiter*innen, mit Online-Anleitungen auch diejenigen erreicht, die monatelang ihre Wohnungen kaum verlassen konnten. Podcasts, virtuelle Fotogalerien und Installationen mit Geschichten aus der Nachbarschaft ließen Menschen miteinander in Verbindung bleiben.

Was bleibt?

Für die Zentren stand von Anfang an im Fokus, nachhaltige Strukturen zu schaffen, um die Aktivitäten nach Auslaufen der Bundesförderung weiterführen zu können. Dies ist erfreulicherweise der Hälfte aller Projekte gelungen. An mehreren Standorten war den Kommunen die Arbeit der Zentren so wichtig, dass sie Mittel für die weitere Quartiersarbeit bereitstellten. Einige Standorte konnten Stiftungs-, Landes- oder Bundesmittel akquirieren. Neben den zahlreichen Transformationen im Kleinen und der Weiterführung der Arbeit vor Ort wird UTOPOLIS vor allem digital fortbestehen: Auf der Website des Bundesverbands Soziokultur unter www.soziokultur.de ist unter dem Button „Qualifizierung“ die Toolbox mit über 150 Methoden abrufbar. Nutzung und Nachahmung sind ausdrücklich erwünscht!

 

Dieser Beitrag ist erschienen in der SOZIOkultur 4/2023 Digitalität

 

Autor*innen

  Kristina Rahe Referentin für Demokratiestärkung kristina.rahe@soziokultur.de

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