Dieser Beitrag von Prof. Dr. Tobias Hochscherf und Prof. Dr. Martin Lätzel ist erschienen im Magazin SOZIOkultur zum Thema Digitalität.
Was passiert eigentlich gerade? Die Medien verändern das Zusammenleben und das Selbstverständnis der Menschen maßgeblich. Die digitale Transformation ist nicht mehr von den rasanten Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz (KI) zu trennen. Während soziokulturelles Engagement Machtverhältnisse infrage stellt und herrschaftskritisch orientiert ist, haben wir es mit Technologien zu tun, die dazu geeignet sind, Einfluss zu konzentrieren und Ohnmacht angesichts technischer Entwicklungen zu befördern.
Status Quo: Historisch keine Neuigkeit
Dies ist geschichtlich eigentlich nichts Neues. Der Einfluss von Technik und Medien wurde in der Medienkulturwissenschaft vielfach beschrieben – häufig mit einem negativen Unterton. So zeichnete der Philosoph und Anthropologe Arnold Gehlen ein düsteres Bild des zunehmenden Einflusses der Technik. Er fasst diesen Einfluss als Prozess in drei Stufen auf.
„Auf der ersten Stufe, der des Werkzeuges, werden die zur Arbeit notwendige physische Kraft und der erforderliche geistige Aufwand noch vom Subjekt geleistet. Auf der zweiten Stufe, der der Arbeits- und Kraftmaschine, wird die physische Kraft technisch objektiviert. Schließlich wird auf der dritten Stufe, der des Automaten, auch der geistige Aufwand des Subjekts durch technische Mittel entbehrlich gemacht.“
Der Kybernetiker Gregory Bateson stellte zu Beginn der Achtzigerjahre angesichts der technologischen Entwicklung fest, „bewußte Zwecksetzung hat nun die Macht, das Gleichgewicht des Körpers, der Gesellschaft und der biologischen Welt um uns herum über den Haufen zu werfen. Eine Krankheit – ein Verlust des Gleichgewichts – kündigt sich drohend an“.
Aktuell begegnen sich diametrale Gegensätze: Soziokulturelles Selbstverständnis und nicht demokratisch legitimierte Tech-Giganten
Wir stehen schwankend und zweifelnd vor einer neuen, bedrohlich wirkenden Unübersichtlichkeit. Während es bisher vor allem menschliche Entscheidungen, ökologische und ökonomische Rahmenbedingungen sowie politische Wertesysteme waren, die einen entscheidenden Einfluss auf die Soziokultur hatten und haben, sehen wir aktuell eine wachsende gesellschaftliche (und ökonomische) Steuerung durch nicht demokratisch legitimierte Tech-Giganten. Das soziokulturelle Selbstverständnis steht dem diametral entgegen. Uns geht es hier um die Frage, ob die Nutzung digitaler Werkzeuge in Einklang zu bringen ist mit dem Gemeinwohl und der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Es geht um die Frage, ob die Nutzung digitaler Werkzeuge in Einklang zu bringen ist mit dem Gemeinwohl und der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Was sich bei Gehlen – und teilweise bei Bateson – noch beunruhigend geriert, hörte sich bei Marshall McLuhan, einem Hauptvertreter der Schule von Toronto, versöhnlicher an. McLuhan ging davon aus, dass Medien als Träger von Information die Beziehungen der Menschen zueinander und zu sich selbst verändern: „So zielen beispielsweise mit dem Aufkommen der Automation die neuen Formen menschlichen Zusammenlebens bestimmt auf die Abschaffung der Routinearbeit, des Jobs hin. Das ist das negative Ergebnis. Auf der positiven Seite gibt die Automation Menschen Rollen, das heißt eine tieferlebte Beteiligung der Gesamtperson an der Arbeit und der menschlichen Gemeinschaft, welche die mechanische Technik vor uns zerstört hatte“.
Mag es bei belanglosem Tun egal sein, ob der Mensch durch die Technik ersetzt wird, so sieht dies beim künstlerischen Prozess anders aus, erst recht, wenn er wie in der Soziokultur wertegeleitetet ist.
McLuhans Gedanken sind durch den Einsatz KI-gestützter Automation aktueller denn je. Sie werden herangezogen, um entweder den Verlust von Eigenständigkeit und Arbeitsplätzen anzuführen, die vollständige Machtübernahme von Robotern und Hyperintelligenzen (wie aktuell der siebte Teil von „Mission Impossible“ zeigt), das Ende der Kreativität anzukündigen oder zu betonen, dass die Maschinen den Menschen neue Freiräume ermöglichen, indem sie von repetitiven und anspruchslosen Tätigkeiten entbunden oder unterstützt und neue Möglichkeiten für die Kunst generiert werden. Mag es bei belanglosem Tun gegebenenfalls egal sein, ob der Mensch durch die Technik ersetzt wird, so sieht dies beim künstlerischen Prozess anders aus, erst recht, wenn er wie in der Soziokultur wertegeleitetet ist.
Folgen für die kulturelle Infrastruktur
Die Kultur ist kein hermetisch abgeschlossener Raum und die technischen Umwälzungen sind auch hier spürbar. Man denke etwa an die aktuelle Diskussion um die Autor*innenrechte von Texten, Tönen oder Bildern, die von generativen KI-Systemen erstellt sind und die mit den Versatzstücken anderer Urheber arbeiten. Neue Techniken betreffen Kultureinrichtungen auf vielfältige Art und Weise: in der Verwaltung, bei der Gewinnung neuer Fachkräfte, in Marketing und Kulturkommunikation, bei Präsentation und Personalisierung von Kultur und bei der Schaffung von Kunst.
Soziokulturelle Einrichtungen sind prädestiniert für die Auseinandersetzung mit KI: Sie können dezentral und in Zusammenhängen denken
Ein Aspekt macht Kultureinrichtungen zu einem prädestinierten Ort für die Auseinandersetzung mit neuen Formen der Digitalisierung und KI: Sie genießen ein hohes Vertrauen und können sich kritisch mit den Chancen und Risiken der Technik beschäftigen. Vor allem haben sie, und das ist ein dezidierter Wert der Soziokultur, das Vermögen, dezentral und systemisch, also in Zusammenhängen zu denken. Wir erinnern uns an Batesons Plädoyer für eine integrierte Betrachtung, die Komplexität erkennt und zur praktischen Steuerung von KI verhelfen könnte: An den Orten der öffentlich geförderten Kultur will einem – im Gegensatz zu den großen globalen Technikkonzernen und zahlreichen Neugründungen in diesem Bereich – niemand etwas verkaufen, es soll keine Meinung vermittelt oder eine bestimmte Lesart vorgegeben werden. Im Zentrum steht Sinngebung, selbst wenn Kunst ohne Zweck ist. „Für die menschliche Vernunft ist es wesentlich, dass sie in allem Sinn finden kann, was ihr begegnet.“ (Friedrich 2023).
Soziokulturelle Orte sind gut beraten, sich selbst zu verhalten, für neue Formate zu öffnen und den Umgang mit KI am konkreten Beispiel auszuprobieren, um einen reflektierten Raum für die kritische Beschäftigung zu bieten.
Nimmt man den Begriff der vertrauenswürdigen KI ernst, dann sind Kultureinrichtungen neben der Bildung zentral, da sie eine für die gesellschaftliche Entwicklung sinnstiftende Auseinandersetzung in einem öffentlichen und geschützten Raum anbieten. „Wir befinden uns,“ so der Medienwissenschaftler Andreas Sudmann, „in einer signifikanten Phase des Übergangs und der Neubestimmung dessen, was Computer im 21. Jahrhundert leisten können. Dies erfordert […] nicht nur einen historischen Zugriff, sondern eben auch eine genaue empirische Beobachtung der Felder hinsichtlich der Anwendung der KI und es erfordert ein neues Nachdenken über kritische beziehungsweise medienkritische Interventionen. Letztere Anstrengungen können sich aber nicht nur auf den Bereich des Technologischen beschränken, sondern wir müssen in der Tat auch reflektieren, wie sie sich auf eine Kritik der Gesellschaft als Ganzes und das Denken in ihr beziehen lassen […].“ Für Sudmann gehören dazu die Ideologiekritik, Gender und Queer Studies sowie die post- und dekoloniale Kritik. Soziokulturelle Orte sind gut beraten, sich selbst zu verhalten, für neue Formate zu öffnen und den Umgang mit KI am konkreten Beispiel auszuprobieren, um einen reflektierten Raum für die kritische Beschäftigung zu bieten.
Kultur als öffentliches Labor für Digitalisierung und KI
Soziokulturelle Zentren und Initiativen können gerade angesichts von krisengetriebener Transformation ihre Anschlussfähigkeit für kritisches und systemisches, demokratie- und teilhabeorientiertes Denken unter Beweis stellen. Kunst wird nicht obsolet, sie erweitert ihren Möglichkeitsrahmen und vor allem auch ihre Teilhabemöglichkeiten (ganz im Sinne der Soziokultur), wie der Künstler Vladimir Alexeev betont:
„Neu […] ist, dass zunehmend Werke in Kooperation zwischen Mensch und Maschine entstehen. Das braucht ganz neue handwerkliche Fähigkeiten. Und die Ausdrucksweisen erweitern sich, es gibt neue Wege, mithilfe von Prompts bestimmte Texte, Bilder oder Musik entstehen zu lassen, auch wenn man nicht malen oder komponieren kann. Die lassen sich mit traditionellen Genres verbinden oder es entstehen ganz neue Dinge.“
Bei aller kritischen Betrachtung können wir schlussendlich hoffen, dass in der Kybernetik auch das Mittel angelegt ist, eine neue und vielleicht menschliche Weltanschauung zu erreichen, ein Mittel, „unsere Philosophie der Macht zu verändern, und ein Mittel, unsere eigenen Dummheiten in einer größeren Perspektive zu sehen“ (Bateson 1981). Es liegt an uns, ob wir den Weg beschreiten wollen, mithilfe von Technik die Welt zu gestalten und zu verändern, oder ob wir uns der Bequemlichkeit hingeben wollen.
Literatur/Quellen
- Vladimir Alexeev: Wir sind am Anfang einer neuen Kulturepoche ZEIT online vom 2. Oktober 2023
- Gregory Bateson: Ökologie des Suhrkamp, Frankfurt 1981
- Jörg Phil Friedrich: Degenerierte Künstliche Intelligenz und die Natur des Denkens. Claudius, München 2023
- Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Sozialpsycho- logische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Rowohlt, Rein- bek 1969, S. 19. Zitiert nach Günter Helmes und Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie. Reclam, Ditzingen 2018, S. 222
- Tobias Hochscherf, Martin Lätzel: KI statt Personal – Fachkräfte- mangel und Innovationsdruck als Herausforderung für Kultur- Kultur Management Network Magazin 172, Mai/Juni 2023, S. 79-88.
- Marshall McLuhan (1964): Understanding The Extensions of Man. Übersetzung von Meinrad Amann für die deutsche Erstausgabe Die magischen Kanäle. Econ-Verlag, Düsseldorf 1992. Zitiert nach Günter Helmes und Werner Köster (Hg.), Texte zur Medientheorie. Reclam, Ditzingen 2018, S. 232.
- Nassim Nicholas Taleb: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. Albrecht Knaus Verlag, München 2013