„Heimat“ wird oft für fragwürdige Zwecke instrumentalisiert. „Beheimaten“ bedeutet für die Soziokultur einen Prozess des aktiven Schaffens von wünschenswerten Lebenswelten.
Ursprünge
Der Ausdruck „Heimat“ teilt eine Eigenschaft mit dem Ausdruck „Nachhaltigkeit“: Es gibt vage Übereinstimmung darüber, worum es ungefähr geht, und dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Verständnisse, Deutungen und Anwendungen. Das Wort entstammt der indogermanischen Wurzel *kei – liegen; ursprünglich handelt es sich um ein Lager, um einen Ort, an dem man sich niederlässt. Bis vor knapp 200 Jahren wurde „Heimat“ als sachliche Bezeichnung für juristische oder geografische Gegebenheiten benutzt. Hauptsächlich ging es um das Aufenthalts- und Bleiberecht. Aus der Geburt in einem bestimmten Landstrich folgte nicht unmittelbar ein Heimatrecht. Das war an Besitz und Eigentum gebunden. Heimat definierte das Recht auf Ansprüche aus den öffentlichen Kassen. Romantisch aufgeladen wurde der Ausdruck erst während der frühen Phase der Industrialisierung. Die Landflucht von Arbeitssuchenden führte zu Massenelendsquartieren in den Städten. Unter Heimat wurde nostalgisch das idyllische Landleben als positiver Gegenentwurf gefasst. Erst seit relativ kurzer Zeit gesteht man auch Großstädten zu, dass sie Heimat sein können. Neurobiologen sehen Heimat im Hirn jedes Menschen präsent, sozusagen als in Fett und Eiweiß gemeißelte Einschreibungen, die meistens bereits in frühester Kindheit erfolgen und deshalb relativ schwer mit anderen Bewusstseinsinhalten überschrieben werden können. Akteure mit emanzipatorischen Zielen haben das Thema aus guten Gründen lange gemieden.
Wandel
Aus noch besseren Gründen wenden sie sich ihm als komplexem Phänomen jetzt verstärkt zu. Denn: Heimat ist weder eine auf- und abschwellende Laune von Zeitgeistern, noch die dumpf-niedliche kleine Schwester der Nation, die sich ein Trachtenkleid anzieht und zu fröhlichen oder melancholischen Volksweisen ihre Suppe aus naiv bemalter Keramik löffelt. Sie ist zum einen tatsächlich wie ideell der Schauplatz, auf dem die alten Bewertungen, Regeln und Lösungswege mit neuen Entwicklungen und Notwendigkeiten kollidieren. Deshalb wird nicht nur manchmal, sondern immer um sie gestritten. Zum anderen: „Kulturpolitik …“ kann, heißt es in der Erklärung der Kulturpolitischen Gesellschaft zum Kongress „KULTUR.MACHT.HEIMATen“, „auch aufgeklärte und aufklärende Heimatpolitik sein, um als ‚konkrete Utopie‘ und in ‚reale Demokratie begründet‘ in der Welt [Heimat] entstehen zu lassen […].“ Im Sinne einer konkreten Utopie ist Heimat zu beschreiben als der gesellschaftliche Raum, in dem man über enge soziale Kontakte verfügt und sein Leben im Miteinander lebt, seine existenziellen Bedürfnisse wie Wohnen und Ernährung sichern kann, einfachen Zugang zu Einrichtungen der Bildung, der Kultur und der humanen Dienstleistungen besitzt. Für Soziokultur besteht im Phänomen Heimat nicht nur eine Möglichkeit des Engagements, sondern eine zentrale Aufgabe. In seinem Vortrag zum 40. Jahrestag der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren spricht Gerd Dallmann von „Beheimatung in der Vielfalt“ und von „Beheimatungsprozessen“ (Soziokultur 2/19, S. 26 f.). Heimat ist demnach nicht einfach etwas so oder so Gegebenes, sondern eine aktiv zu erbringende Anstrengung. Für soziokulturelle Interventionen besteht hier dringender Bedarf.
Gutes als Trug
Heimat wird im Wesentlichen aus zwei Gründen immer positiv konnotiert. Was wir dazu bildlich in unserem Gedächtnisvorrat abgespeichert haben, ist ein Übermaß an friedlicher, gesunder Idylle. Auch, wenn wir weder Anhänger von Kitsch noch von trügerischen Illusionen sind: Die Bilder, die unsere Hirne zu Heimat abrufen können, zeigen das Gegenteil von Elend, Krankheit, Schmutz und Krieg. Und: Die meisten von uns stellen einen Zusammenhang zur Kindheit her. Wer eine unschöne hatte, benutzt nicht „Heimat“ als Bezeichnung für die räumliche Gegend seiner ersten Jahre. Wer allerdings in seiner Kindheit Liebe, Zuwendung und Unbeschwertheit erfuhr, der überträgt dieses Lebensgefühl – das im Kern neben der Anwesenheit von Liebe ja auch in der Abwesenheit von Verantwortung und Entscheidungsfreiheit besteht – gern unbewusst in den Kontext von Heimat. Überspitzt ausgedrückt kann man sagen: Heimat steht oft auch für die Illusion, man könne das kindliche Seins-Gefühl der Sorglosigkeit und der vollkommenen Herrschaft des Guten zurückerlangen, wenn man nur die alten Zustände wiederherstellt.
Trägheit des Erbguts
Unsere Ideen, Überzeugungen und Verhaltensmuster übernehmen wir zuerst von den Eltern oder von anderen frühesten Kontaktpersonen. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins geht sogar davon aus, dass sie – ähnlich wie unsere biologische Konstitution durch Gene – durch Meme soziokulturell vererbt werden. Fest steht: Ihre Veränderung erfolgt im Verlauf der Evolution relativ langsam. Wir übernehmen unsere Bewusstseinsinhalte, vor allem unsere sozialen Verhaltenskoordinatoren, zunächst von den Eltern. Während wir uns in der Pubertät abnabeln, beginnen wir die Eltern lebenslang einer kritischen Prüfung zu unterziehen und uns bewusst zu entscheiden, was wir übernehmen und was wir künftig anders halten wollen. Zum großen Teil tun wir das am Maßstab der elterlichen Regeln selbst, zum kleineren anderen Teil gleichen wir ab, ob unsere Werte und Überzeugungen zu unseren anderen Lebensumständen passen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir unsererseits die Hirne unserer Nachkommen prägen, sind die meisten von uns mit der Selbstaneignung der Welt noch nicht besonders weit fortgeschritten. Als individuelle soziokulturelle Erbträger sind wir objektiv nicht in der Lage, mit der Dynamik der globalen und komplexen gesellschaftlichen Veränderungen Schritt zu halten. Vielfalt ist nicht nur Ergebnis von Entwicklungen, sie ist vor allem existenzielle Bedingung für unsere Welttauglichkeit. Wenn Gerd Dallmann für die Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren über Beheimatungsprozesse in der Vielfalt spricht, dann heißt das: Vielfalt von der Bildung der allerersten Gedanken in der frühesten Kindheit an.
Ressentiments als Erbe
Noch unter den nostalgischromantischen Zeit-Schichten in den Vorstellungen von Heimat überdauern hartnäckig die alten exkludierenden Rechtsnormen von Blut und Scholle. Da es sich – sowohl was das Phänomen Heimat als auch was die Normen als Bewusstseinsinhalte betrifft – um frühe Prägungen handelt, existieren sie als empfundenes Recht und sind mit starken Emotionen behaftet. Wir beobachten, dass Menschen aus strukturschwachen Gegenden, an deren soziokultureller Prägung eine vergleichsweise kleine Menge unterschiedlicher Einflüsse beteiligt war, mit auffallender Leidenschaft auf Heimat und Heimatrechten bestehen. Rassismus und Fremdenhass haben hier ihren Ursprung. Wer aus Gründen von Blut und Scholle, oder einfach, weil er später kommt, nicht dazugehört, wird bis zur brachialen Konsequenz abgelehnt. Nicht von ungefähr findet die AfD in dünn besiedelten und schrumpfenden Regionen und unter Russlanddeutschen ebenso Zustimmung wie unter Vertriebenenverbänden oder Migrant*innen mit türkischen oder syrischen Wurzeln, derentwegen gern nach ihnen alle Brücken hochgezogen werden sollen.
Verlust und Angst
Für lange Zeit wurde der Ortsbezug als das Bestimmende an Heimat gesehen. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzen sich die sozialen Beziehungen als das Ausschlaggebende durch. Gegenwärtig finden sowohl in ländlichen Regionen als auch in Stadtquartieren, die der Gentrifizierung oder Verwahrlosung unterliegen, Prozesse des Abbaus von Heimaten statt: Bezugspersonen verziehen oder sterben, erworbene Kompetenzen werden entwertet, Treffpunkte, Bildungs- und Dienstleistungseinrichtungen, Handels- und Wirtschaftsstrukturen verschwinden. Oskar Negt verwies schon 1990 auf die Heimatlosigkeit aller sozial Entwurzelten. Menschen sind soziale Wesen. Sie empfinden Heimatlosigkeit als ultimativen Angriff auf ihre Würde – und deshalb angstvoll. Angst wiederum ist eine so starke Emotion, dass sie sich oft kaum artikulieren geschweige denn mit rationalen Erwägungen beheben lässt. Drohender Heimatverlust bewirkt einen emotionalen Humus, der bereit ist, physische Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung zu tolerieren. Bleibt die Deutungshoheit über Heimat konservativen oder nationalistischen Kräften überlassen, die ja genau an diese Urängste appellieren und an die illusorische Idee, in früheren Zuständen sei die ultimative Idylle zu gewinnen – dann erhöht das die Gefahren für den sozialen Frieden unmittelbar.
Bühne für Heimaten
Mit ihrem Engagement für Beheimatung spielen die Akteur*innen der Soziokultur nicht nur als Schöpfer*innen von Bindungen, verlässlichen Anlaufpunkten und tragfähigen Strukturen eine wichtige Rolle. Sie gehören auch zu denjenigen, denen es gelingen kann, Zugang zu den oft ablehnenden Emotionen von Menschen zu bekommen, die für den vernünftigen gesellschaftlichen Diskurs längst verloren scheinen. Sie besitzen hohe Kompetenz in dem Einsatz von ästhetischen Techniken und künstlerischen Mitteln, die dafür nötig sind. „Soziokultur“, sagt Gerd Dallmann, gibt „von Ausgrenzung oder Benachteiligung betroffenen Gruppen die Möglichkeit, ihren Anliegen Ausdruck zu geben und sie auf die Bühne zu bringen.“