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21.02.2023

#OSTEN, Magazin SOZIOkultur, Porträt

Schloss Bröllin: Nichts Menschliches ist hier fremd

Von: Dr. Edda Rydzy

Weil das 800 Jahre alte Gut Bröllin einen markanten Turm besitzt und früher starken Schweinegeruch verbreitete, haben die Leute es spöttisch Schloss Bröllin genannt. Es ist zu einem Anziehungspunkt für internationale darstellende Künstler*innen und ins Leben der Menschen vor Ort gewachsen.

Idylle mit Eigenheiten

Seit Jahrzehnten gilt die ruhige schöne Landschaft der Uckermark vielen Künstler*innen, besonders denen aus Berlin, als begehrter Rückzugsort. Ein Experte für Regionalentwicklung, der damit wahrscheinlich nicht zitiert werden mag, fasst für die 1990er Jahre die Kehrseite der abgeschiedenen Idylle zusammen: Es gibt keine Arbeit und, weil die gut ausgebildeten flexiblen Menschen anderswo ihr Auskommen suchen, fast keine jungen Frauen mehr. Überdies erstreckt sich die Gegend auf der Kreuzung von skandinavischer und russischer Trunksucht.

Entrückte Tristesse bestätigt auch an jedem beliebigen grauen Tage im zeitigen Frühjahr 1992 der bloße Anblick der Gutsanlage Bröllin. Fast alles, was Beine hat, ist gegangen. Von den zweieinhalb Tausend Kühen, Schafen und Schweinen der früheren LPGen liegt noch alter Dung herum. Ein Anbau, der umgebaut werden sollte, steht mit zugemauerten Schornsteinen unbrauchbar herum. In einzelnen bewohnbaren Räumen des Gehöfts leben eine 90-Jährige, dazu eine Frau, die früher den Konsum betrieben hat, deren ehemals für den Müllplatz zuständiger Mann, zwei Alkoholiker sowie einer, den sie den Streckenläufer nennen, weil er täglich den Weg nach Pasewalk und zurück auf den eigenen Beinen eilt. Mehr ist nicht übrig von den drei Jahre zuvor noch 300 Beschäftigten.

Anfang trotz Absage

Als Katharina Husemann und ihre Theater-Kolleg*innen in jenem zeitigen Frühjahr zum ersten Mal die Füße in den Hof setzen, ist eben kein grauer Tag. Eigentlich hat ihnen zuvor der Sinn gar nicht nach Landleben gestanden. Auf der Suche nach einem neuen Ort, an dem sie Aktions-Theater produzieren und zeigen können, haben sie in Berlin und der näheren Umgebung nur entweder ungeeignete oder unerschwingliche Räume gefunden und schließlich dankbar den Tipp Bröllin aufgegriffen.

Sie betreten den Hof auf dem fünf Hektar großen Gelände, als gerade die Sonne untergeht. Demnächst knallende Knospen füllen die Luft mit Vorfreude. Die goldrot leuchtenden Feldsteingemäuer atmen Verheißung. Eine geradezu mystische Stimmung. Katharina und Co. wissen in der ersten Sekunde: Das ist es. Diese Flächen und Räume warten darauf, mit Kunst und mit Leben gefüllt zu werden. Unendliche, ungeahnte Möglichkeiten.

Ohne zu zögern stürzen sie sich in das Unterfangen. Für 50 Pfennig pro Quadratmeter mieten und pachten sie die Gebäude und Flächen, gründen den schloss bröllin e.V., ziehen in einen Raum, den sie spärlich möblieren und als gemeinsames Schlafzimmer, für Besprechungen und als Küche nutzen. In ein anderes verschließbares Zimmer legen sie Wasser und stellen eine Campingtoilette. Bei jedem Schritt, bei jedem Handschlag ist ihnen klar: Vor uns liegt gigantische Arbeit.

Um vermeidbare Fehler auszuschließen, verabreden sie sich gleich in den ersten Wochen mit zwei Unternehmensberatern. Drei Tage lang wollen sie mit ihnen die Lage analysieren und diskutieren, wie sie das Ziel, einen funktionierenden und einladenden Ort der künstlerischen Produktion und des kulturellen Lebens, am effektivsten erreichen. Doch nach anderthalb Tagen packen die Berater ihre Unterlagen zurück in die eckigen Aktenköfferchen und reisen ab. „Zu viel, zu groß, zu uferlos, es hat keinen Zweck“, sagen sie. „Sie rechnen eben mit den Zahlen und Wahrscheinlichkeiten, die sie kennen, aber nicht mit dem leidenschaftlichen Engagement von vielen“, sagt Katharina. Der Verein kümmert sich selbst darum, dass das Gut unter Denkmalschutz gestellt wird und übernimmt auch die Pflege des umliegenden Geländes. Noch mehr Arbeit. Ohne Unterstützung wären sie aufgeschmissen.

Salti und stehen können

Absolutes Improvisorium, Gemeinschaftsschlafspeisedenkrederaum und Campingklo hin oder her – Kunst muss sein. Bereits im ersten Sommer steigt die Produktion „CASA DE LOCOS“. Sie zieht Zuschauer*innen an. Bald spricht sich Schloss Bröllin unter darstellenden Künstler*innen als ganz besonderer Ort herum.

Doch mit dem Großteil ihrer Kraft schleppt sich die Gruppe an Steinen, Farben, Kabeln, Rohren, Brettern und was nicht noch ab, läuft sie allen, die sie nur irgendwie für Kultur in Verantwortung sieht, die Türen ein. Wer so für seine Vorstellungen und Ziele brennt, muss Erfolg haben.

Der Verein und seine Unterstützer*innen gewinnen unter anderem das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern, den Landkreis Vorpommern-Greifswald, natürlich die LAG Soziokultur MV e.V. und Pomerania e.V. als Förderer für Projekte. 2000 wird schloss bröllin e.V. zum Besitzer des Gehöfts. Um kontinuierlich die immer nötigen fleißigen Hände zur Stelle zu haben, schaffen sie die Voraussetzungen dafür, dass auf dem Gut unterschiedliche Freiwilligendienste absolviert werden können. Auch wer hier der eigenen Kunst wegen kürzer oder länger verweilt, zieht mal hier ein Unkraut aus dem Beet, schlägt dort einen Nagel in die Wand, bringt Schutt weg oder sägt einen toten Ast ab.

Im Lauf der Jahre entsteht das Wunderbare schlechthin. Ob man in die Zimmer für die Residenz-Künstler*innen schaut, in die drei Studios, in die Florian-Vogelfrei-Halle, die Seminarräume, den „Circus-Silo“, auf den „KunstAcker“ oder ins weitläufige Außengelände – es herrscht der Geist besten Designs. Der sagt: Alles muss seinem Zweck dienen, ansonsten ist weniger mehr. Moderne Schwingböden und eine helle Bühne bieten zwischen alten Mauern, Balken und Pfeilern sicheren Stand. Hier schlägt die Kunst ihre Salti auf den Schultern der Geschichte.

Achterbahn und Rap

Ihre Auftritte, Produktionen und Neugier haben Katharina kreuz und quer durch Europa geführt. Besonders in den kleineren Orten sind ihr die Menschen immer als spürbar untereinander verbundene Gemeinschaften begegnet. Um Bröllin herum erlebt sie es anfangs anders. Zum Teil mag das an der typischen küstennahen Maulfaulheit liegen, die man auch zwischen Husum und Kiel antrifft. Doch nicht nur. Manche der Einwohner*innen wurden vor nicht allzu ferner Zeit durch Zufälle in den dünnbesiedelten Landstrich südlich von Pasewalk gespült, andere hierher strafversetzt. Mit den Arbeitsstellen sind zu Beginn der 1990er wichtige Bindekräfte abhanden gekommen. Etwas wie Gemeinschaft spürt Katharina zunächst nicht. Doch die Bewegung auf Bröllin bleibt nicht unbemerkt. Das lockt ab und zu ältere Leute an. „Habt ihr Arbeit?“, fragen sie. Es kommen auch junge Neonazis und verlangen mit gezogener Schusswaffe: „Haut ab! Ihr nehmt uns die Arbeit weg!“

Immerhin bieten die Brölliner Gesprächsstoff, wenn es sein muss mit kopfschüttelnd zur Kenntnis genommenen „Lumpen auf der Wäscheleine!“. Ein halbnackter Butoh-Tänzer, den sie auf die erste Einladung hin zu einem Stadtfest nach Pasewalk bringen, stiftet dort Verlegenheit.

Das in den Augen der Leute aus dem Landkreis skurrile und bizarre Durcheinander auf Bröllin, in dem in manchen Monaten auch noch Englisch automatisch zur Hofsprache wird, weil die Künstler*innen von sonst wo kommen, bildet eine Schwelle von Reserviertheit und Misstrauen. Die will erst mal überstiegen werden. Manche reizt das bunte Treiben längst durchaus positiv. Irgendwie trauen sie sich trotzdem nicht, bis sie von ihren Kindern an der Hand genommen werden, die sich an einem der Jugendprojekte beteiligen.

Die Situationen, in denen sie die Distanz direkt vor ihren Augen schwinden sieht, sind für Katharina Sternstunden. Eine davon ereignet sich auf dem aberwitzigen Jahrmarkt, mit dem sie ihren 25. Jahrestag feiern und zu dem sich auch aus der näheren Umgebung eine Gästeschar einfindet. Da gibt es eine große Wand aus Pappe. Über die fährt eine gemalte Achterbahn. An den richtigen Stellen oberhalb der Fahrzeuge befinden sich Löcher, durch die die Gäste ihre Köpfe stecken. Jemand lässt stimmgewaltig die irre Fahrt verbal stattfinden: „Steil nach oben! Steil wieder runter, rechts in die Kurve und jetzt das Ganze kopfüber!“ Die Leute schreien und lachen dazu, als würden ihnen tatsächlich die Haare vom Kopf oder die Socken von den Füßen fliegen. Sie denken nicht, dass das Spaß macht. Sie fühlen es mit allen Fasern ihrer Körper. Ein anderes Mal zeigen Jugendliche die Ergebnisse eines Projekts. Ihre Familien und Freund*innen haben sich im Zuschauerraum versammelt. Ein Junge trägt in einem Rap seine innersten Nöte vor. Es springt Katharina förmlich an, dieses Gefühl des Publikums, dass es aus eigenem Leben weiß, was dem Jungen widerfuhr, dass es dem Rapper seelisch hilft, die für ihn neue Sprache der Kunst erobert zu haben.

Inzwischen kommt die erste Generation jugendlicher Projektteilnehmer*innen ganz erwachsen zum Arbeiten her.

David Adler kommt im Spätsommer 2020 ins Team, um das Projekt zu leiten. Hier ist, gepaart mit entgegengebrachtem Vertrauen und Gestaltungsfreiheit, Management als organische Verbindung von Verwaltung und Inhaltlichem gefragt. Genau das braucht er, um sich in seiner Arbeit wohl zu fühlen. Er soll und will die Wünsche und Interessen der Anwohner*innen zum Ausgangspunkt nehmen. Da besitzt Wiedererkennung einen hohen Stellenwert. Kunst hingegen möchte auf neue, überraschende, auch gern irritierende Weise zeigen, was sie über die Höhenflüge und Abgründe der Menschen, über die Paradoxien und Absurditäten ihres Aneinandergeratens gesehen oder herausgefunden hat. Logisch, dass sich zwischen allen Beteiligten einiges reiben muss, auch im Team selbst. Daraus werden sie keinen Schaden nehmen, sondern immer irgendwann gemeinsam Gewinn ziehen.

Lasten

Doch aus anderen Gründen und durch die Pandemie noch erschwert, befindet sich Schloss Bröllin gerade an einem kritischen Punkt. Katharina stellt fest: Es wird immer schwerer, den Raum und die Freiheit für Entwicklung zu behalten. Alle möglichen Verwaltungs- und Sicherheitsvorschriften verlangen Spagate. Dass der Gutshof inzwischen jährlich mehr als eine Million Euro umsetzt, ist viel. Vor allem, weil das Verantwortung gegenüber dem Ort, der sich auf die Leistungen und Angebote verlassen will, und gegenüber den Angestellten bedeutet. Doch die Summe kommt vor allem durch ein kräftezehrendes Irrsinnspatchwork von Förderprojekten zusammen. David und die Kooperationspartner*innen zum Beispiel wissen also, dass „Kulturlandbüro Uecker-Randow“ gerade jetzt und gerade hier nötig gebraucht, aber nicht, ob es nach 2024 noch da sein wird. Manche Fördermittel sind an die Zahlung bestimmter Tarife gebunden. Daraus ergibt sich eine schwer zu vertretende und zu vermittelnde Lohnungleichheit. Wer soll das aushalten. Es gibt die Überlegung, eine Stiftung zu gründen. Wie auch immer das ausgeht, Schloss Bröllin muss auf ein planungssicheres Fundament. Sonst geht womöglich in der Uckermark eine im Zauber von Freiheit funkelnde Welt verloren, in der nichts Menschliches fremd ist.

KATHARINA HUSEMANN ist Mitbegründerin und Vorsitzende des Vereins schloss bröllin e.V. DAVID ADLER leitet das Projekt Kulturlandbüro Uecker-Randow.

 

Dieser Artikel ist erschienen in der SOZIOkultur 1/2022 Osten

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

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