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14.07.2023

Geschichte der Soziokultur, Kulturpolitik, Landesverbände, Netzwerk Soziokultur

Es glänzt nicht alles, was Gold ist

Gedanken zur Sichtbarkeit der Soziokultur zum 50. Geburtstag

Von: Jennifer Tharr

Ein halbes Jahrhundert hat sie nun also auf dem professionellen Buckel, zumindest die Ältesten unter ihr. Die Geschichte, wie alles anfing, wurde schon oft erzählt, meist im großen Bogen. Dennoch kann sie nicht oft genug erzählt werden. Denn die unzähligen Leistungen und Lebenswerke, die hinter diesen in den 70er Jahren so neuen und revolutionären Orten mit ihrer Praxis der niedrigschwelligen, teilhabeorientierten Kulturarbeit stehen, sind so vielfältig wie faszinierend.

Vereinzelt gibt es meist sehr persönlich motivierte Projekte der Erinnerung, punktueller Geschichtsschreibung[1]. Doch ein wirkliches Desiderat, das drängt, ist die systematische Beschreibung dieses Netzwerks, das sich mittlerweile über ganz Deutschland spannt. Das in den hintersten Winkel und in die Großstädte hinein und auch an den nationalen Grenzen keineswegs Halt macht. Wie ist es entstanden, wie gewachsen? Welchen kulturpolitischen Einfluss hat es auf die Regionen, auf ganz Deutschland? Und vor allem: Wer hat dieses Netzwerk gewebt und geknüpft, wer bildet(e) die Knotenpunkte?

All die persönlichen Geschichten der Gründer*innen, ihre Erfahrungen, die Erfolge und Misserfolge, all die Euphorie und die Wut, die Kraft und die Erschöpfung, die sich in ihren Lebensgeschichten angereichert hat, zu sammeln und sichtbar zu machen, das steht an. Der 50. Geburtstag der Soziokultur ist nicht nur ein Grund zu feiern. Er sollte uns auch Mahnung dafür sein, dass es – wie meist – noch viel zu tun gibt.

Eine hoffentlich unendliche Geschichte

Dieser Schatz an Praxiswissen und -erfahrung ist kein bloßes Denkmalprojekt (was durchaus legitim wäre). Er enthält vielmehr ein großes Pfund an sozialer Nachhaltigkeit. Mit ihm muss das Rad nicht ständig neu erfunden werden. Die Energie der Miteinsteigenden und Nachrückenden kann in die Bewegung investiert werden. In die eigentliche soziokulturelle Arbeit. In ihm liegt aber auch der Schlüssel zu Respekt und Verständnis für die Lebensleistungen der Gründer*innen, die aus heutiger Sicht vor allem für die neue Generation nahezu übermenschlich erscheinen. Hier liegt die Kraft für den Händedruck des Generationenhandschlags.

Doch wer soll’s machen? Mit welchen Kapazitäten? Das ist eine gute und eine alte Frage. Denn mit dem, was der Soziokultur zur Verfügung steht, auf der lokalen Ebene, der Ebene der Landesverbände und der Bundesebene ist kontinuierliches Krisenmanagement angesagt. Da bleibt kaum Zeit für den Rückblick, zum Sammeln und Sortieren und vor allem: zur Präsentation all dessen.

Ich sehe was, was Du nicht siehst

Es ist leider alles andere als ein Kinderspiel, was an Sichtbarkeitsgenerierung und Übersetzungsleistung zwischen Politik, Verwaltung und Szene geleistet wird und werden muss, damit die sogenannten Rahmenbedingungen für die Soziokultur stimmen. Stimmen heißt in diesem Fall: verbessert, verlässlich, verständlich werden. Man ist im Gespräch, mal mehr, mal weniger. Dort, wo es gut läuft, hat sich in den letzten Jahren eine vertrauliche und regelmäßige Austauschkultur und Ebene der Zusammenarbeit entwickelt. Die Bedeutung von gut ausgestatteten Landesgeschäftsstellen beziehungsweise Landesarbeitsgemeinschaften (LAG) ist gewachsen. Der Beratungsbedarf steigt kontinuierlich und oftmals übernehmen die LAG auch die Antrags- oder sogar Mittelverwaltung der Landesmittel.

Einige Kulturministerien der Länder haben die Bedeutung und Förderwürdigkeit der Soziokultur erkannt und unterstützen in besonderer Weise. Die LAKS Hessen hat eine beispiellose Strukturförderung für ihre Zentren in engster Zusammenarbeit mit dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst auf den Weg gebracht. In weiteren Bundesländern sind aufwendige, aber konstruktive Verhandlungsprozesse im Gange.

Der Landesverband Stadtkultur Hamburg hat erreicht, dass die Senatsverwaltung sich der Neubewertung des Tarifgefüges angenommen hat. Der Bremer Senator für Kultur übernimmt die Komplementärmittel für Bundesförderungen für die freie Szene. Nicht mehr neu und nach wie vor bemerkenswert ist das 2:1-Modell in Baden-Württemberg für die Soziokultur als Kooperationsförderung zwischen Land und Kommune, zudem wird die Erstausstattung eines soziokulturellen Zentrums gefördert.

Das Aber lässt nicht lang auf sich warten, denn selbst hier, bei diesen Hoffnung machenden Bestrebungen, bleibt die harte Arbeit, die Finanzressorts zu überzeugen und der unwürdige Kampf um die Verteilung des großen Kuchens. Zahlen, Daten und Fakten und gleichzeitig die Erfolgsgeschichten, die das Wirken der Soziokultur greifbar machen, müssen trotz knapper Kapazitäten fortwährend bereitgehalten werden.

Große Bühne, Großformat…

… das liegt der Soziokultur eigentlich fern. Mit der großen Bühne erwirtschaftet sie vor allem ihren Eigenanteil. Vor der Pandemie lag der immerhin bei beachtlichen 50 bis zum Teil 90 Prozent der Gesamteinnahmen. Durch Pandemie, Energiekrise und Inflation ist er arg in Mitleidenschaft gezogen. Auf den kleinen Bühnen, in den Workshopräumen passiert jedoch die eigentliche Magie der Soziokultur. Hier wird im Zauberkessel mit wertvollen Zutaten wie Engagement und Expertise, Interesse und Neugier, Empathie und viel Geduld der Trank gebraut, der da kulturelle Teilhabe heißt und der so vielen wie möglich schmecken soll.

Derzeit wird vielerorts in der Kultur dieser Kessel herausgeholt. Doch dass so ein Gemisch länger als ein Projekt und eine Spielzeit köcheln, ständig umgerührt werden muss und vor allem die Zutaten nicht von heute auf morgen zu haben sind, diese Erfahrung wird nicht selten gemacht. Die Arbeitsweise der Soziokultur zeichnet sich hier bei aller Prekarität durch Beständigkeit und Verlässlichkeit aus. Dass zu leisten trotz dieses kräftezehrenden Förderflickenteppichs, wäre eine große Show wert.

Die Versammlung der Wünsche, die der Landesverband Soziokultur NRW im Januar dieses Jahres im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr durchgeführt hat, war so eine große Show und darin zutiefst berührend und beeindruckend. Dort war zu sehen, was passiert, wenn man all die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Szene in ein großes Format bringt. Wenn man all den unermüdlich Engagierten einen großen Auftritt lässt: unprätentiös, vielstimmig, divers! Und im gemeinsamen Ziel so einig und tatkräftig. Wir brauchen mehr von dieser stolzen Sichtbarkeit, denn Soziokultur ist nicht selbstverständlich!

Feiern als Chance

Der 50. Geburtstag der Soziokultur ist eigentlich mindestens eine Geburtstagdekade. 2029 freuen wir uns zum Beispiel, den 50. Geburtstag der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren zu feiern. Eben jene heißt mittlerweile Bundesverband Soziokultur. Denn die – nicht zuletzt bauliche – Realität der Zentren stallt einen Schwerpunkt verbandspolitischer Arbeit dar. In 50 Jahren hat sich auch eine leicht zugängliche, partizipative Arbeitspraxis herausgebildet, die wir nun „Soziokultur“ nennen. So viele weitere Zentren, Initiativen und auch Landesverbände werden in den kommenden Jahren ebenfalls ein Grund zum Feiern haben. So etwa der Landesverband Soziokultur Thüringen im August – und diesen Anlass sicherlich nutzen, um Sichtbarkeit zu erzeugen. Nicht zuletzt, weil alle eingeladen sind und mitfeiern dürften.

Ein blinkender Strauß Geburtstagswünsche

Was wünscht ein Bundesverband seinem Fachfeld, wenn er sich selbst für die Erfüllung von vielen dieser Wünsche selbst mitverantwortlich sieht? Ein großes buntes Bouquet an Dringlichkeiten, für dessen Erfüllung sich im besten Fall ein Zuständigkeitskomitee aus Bund, Land und gestärkten Kommunen zusammentut.

  • Dass die Soziokultur sich nicht ständig erklären muss und von vorne beginnen muss.
  • Dass sie ausreichend Mittel zur Verfügung hat, um die so dringlich notwendigen Transformationsprozesse für den nachhaltigen Wandel anschieben zu können.
  • Dass ihre oft besonderen und denkmalgeschützten Häuser energetisch saniert werden können.
  • Dass sie sich qualifizieren kann, um ihr Ehrenamtsmanagement neu aufzustellen, sodass alle Generationen ihre Wirksamkeit in Übereinstimmung mit ihren Lebensvorstellungen einbringen können.
  • Dass ihre Mitarbeitenden endlich fair bezahlt und damit auch die gut ausgebildeten, jungen Leute angezogen und gehalten werden können
  • Und – das ist der entschiedenste Wunsch – dass verstanden wird, wie wichtig es ist, die Soziokultur strukturell in ihren Basiskosten zu fördern und diese Förderung in ihrer Zweckbestimmung so flexibel wie möglich zu gestalten.

Dass all diese Wünsche nicht nur ein gutgemeinter Geburtstagstoast bleiben, dafür setzen wir uns zusammen mit den Landesverbänden ein. Lasst uns dieses Momentum des Jubiläums nutzen und noch stolzer und selbstbewusster zeigen, was die Soziokultur alles kann und verlässlich, flexibel und resilient leistet – seit 50 Jahren! Spot on!

____________________________________

[1] Z.B. die Publikation „KOMM – 23 Jahre Soziokultur in Selbstverwaltung“ von Michael Popp. Hg. v. Christof Popp. Nürnberg 2022.

 

Der Beitrag ist erschienen in Kulturpolitischen Mitteilungen, Heft 181, II/2023: 50 Jahre Soziokultur, S. 47-48. Hier als  PDF zum Download.

Autor*innen

  Jennifer Tharr Kulturpolitische Sprecherin jennifer.tharr@soziokultur.de

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