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31.01.2023

#DEMOKRATIE, Magazin SOZIOkultur, Porträt

Die Zinnschmelze: Einmischen – mit­mischen – aufmischen

Von: Dr. Edda Rydzy

… ist die Maxime der Zinnschmelze in Barmbek­Nord. Das Team eröffnet im Bündnis mit seinen Partner*innen neue Räume auf schwierigem Grund.

Erste Funken im Grau

Hamburg ist nicht gleich Hamburg, sondern Reeperbahn hier, Blankenese dort und sozial mitten dazwischen Barmbek-Nord. In seiner charakteristisch deutschen, wechselhaften Metropolengeschichte hatte der Stadtteil mehrmals Glück. Er gilt als Pionierstandort der modernen Stadtplanung, ist mit seinem Architekturstil der „Neuen Sachlichkeit“ Kulturdenkmal. Während der letzten Jahre der Weimarer Republik entstanden hier Tausende Wohnungen. Sie lagen 1945 wie ganz Barmbek nahezu vollständig in Trümmern. Anders als an vielen anderen Orten baute man sie fast genau nach den alten Plänen wieder auf. Den Barmbeker*innen blieb Hässlichkeit erspart. Es zog viele in das attraktive Quartier. 1960 lebten hier fast drei Viertel mehr Menschen als ein Jahrzehnt zuvor. Wenig später setzte eine Stadtflucht ein, bei der Hamburg insgesamt elf Prozent seiner Einwohner*innen verlor, Barmbek-Nord fast vierzig.

1984, auf dem Tiefpunkt dieser Entwicklung, gründen Aktivist*innen den Barmbeker Verein für Kultur und Arbeit e.V. Fortan betreiben sie in der ehemaligen Schmelzanlage für Zinn der New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie ein selbstverwaltetes Kulturzentrum. Zur Verfügung haben sie einen Raum. In den passen mit Stapeln und Stopfen etwa 60 bis 80 Leute und ein langer Tresen. Den bewirtschaften sie selbst. Schräg über den Hof gibt es noch ein kleines Büro. Lange alle ehrenamtlich, setzen sie mit ihren Veranstaltungen Funken der Lebensfreude in die Barmbeker Tristesse aus Schrumpfen und Niedergang. Über ihnen unterm Dach ermöglicht es der Verein Theater Jugend Hamburg e.V. Kindern und Jugendlichen, sich im Schauspiel zu üben.

Im Bündnis

Mit all ihrem ausdauernden Engagement gelingt es den Kulturakteur*innen lange Zeit nicht, die traurige Tendenz des Kiezes umzukehren. Um die Jahrtausendwende ist Barmbek-Nord extrem überaltert. Nicht nur die Zinnschmelzer*innen empfinden, dass dringend etwas Grundsätzliches geschehen muss. In einem informellen Bündnis beraten sie Seite an Seite mit Bürger*innen, mit der Kirchengemeinde, Gewerbetreibenden und Verwaltungsbeschäftigten darüber, wie sich das Quartier entwickeln soll und kann.

Es folgt eine aufregende Zeit. Zunächst geht es darum, überhaupt den Weg zu finden, auf dem sie dann ans Ziel kommen können. Gerade jetzt stößt Sonja Engler zu den Quartierbeweger*innen. Sie ist gelernte Buchhändlerin und kam in den 1980ern über ein Ehrenamt in die Soziokultur. Bis 1991 arbeitete sie im Theater Freudenhaus in Essen. Um sich für mögliche spätere Bewerbungen zu wappnen, studierte sie dann in Hildesheim Kulturpädagogik. Drei Jahre nach ihrem Abschluss begann sie Großstadthunger zu leiden. Sie gab das beschauliche Hildesheim auf, die Wissenschaft auch, und traute sich ins Hamburger Blaue. Ihr Studium hatte sich durch starken Praxisbezug und konsequente Interdisziplinarität ausgezeichnet. Schubladen disqualifiziert. So ausgestattet folgt Sonja in Hamburg keinem fixen Karriereplan. Vielmehr sucht sie mit offenen Augen nach Möglichkeiten, etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Wie hätte sie nicht auf die Wege der Zinnschmelzer*innen geraten sollen und nicht sofort in Turbulenzen.

Eng mit Initiativen gegen Rassis­ mus zusammenzuarbeiten gehört zum Teamgeist der Zinnschmelze.

Wünsche und Wege

Bis Sonja mit einem 19,5-Stunden-Vertrag hinzukommt, hat Dorothée das gesamte angestellte Personal gebildet. Es reicht auch jetzt kaum für die eigenen Veranstaltungen. Sie engagieren sich aber gleichzeitig mit voller Kraft in dem informellen Bündnis zur Entwicklung von Barmbek-Nord. Zu kooperieren bedeutet ja nicht nur, dass jeder das die anderen ergänzende Seine tut. Alle ziehen an einem Strang. Es verbietet sich, auf gegebene Zusagen zu pfeifen und die anderen hängen zu lassen.

Gemeinsam mit dem Bürgerhaus und der Kirchengemeinde möchten die Zinnschmelzer*innen – sozusagen als Initiationsschritt der Quartiersentwicklung – erst einmal herausfinden, was die Einwohner*innen für eine schönere Zukunft gern hätten. Sie schicken 2001 einen kleinen künstlichen Baum durch den Stadtteil, den „Wunschbaum zu Barmbek“. Die Leute behängen ihn mit 2.231 Wunschzetteln. Die wollen erfasst und ausgewertet werden. Schließlich sollen sie möglichst rasch in einen konkreten Plan münden. 2002 ruft das informelle Bündnis das „StadtTeilGespräch“ ins Leben. Es findet seit damals jeweils einmal in zwei Monaten statt. Bürger*innen, Expert*innen, Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung und Kulturakteur*innen pflegen hier den kurzen Draht zueinander und zu heißen Themen.

Kein Chillen, aber Schill

Sie haben in den ersten Jahren mehr als alle Hände voll zu tun. Bis der Hamburger Senat 2005 endlich die Grundsanierung von Barmbek beschließt, müssen sie Inhalte, Pläne und Konzepte entwickeln, ihre Machbarkeit fundiert beweisen, Anträge schreiben und die richtigen Unterstützer*innen überzeugen.

Etwa im gleichen Zeitraum erleben sie den kometenhaften Aufstieg und Abgang der rechtspopulistischen Schill-Partei. Diese wird 2001 von einem Viertel der Hamburger*innen in die Bürgerschaft gewählt, nachdem gerade erst die Statt Partei rechtsextrem unterwandert wurde und auch deshalb untergegangen ist. Eng mit Initiativen gegen Rassismus und extrem rechts zusammenzuarbeiten gehört zum Teamgeist der Zinnschmelze. Allen Engagierten im Barmbeker Netzwerk ist klar: Das Ende der Schill-Partei heißt nicht, dass deren politische Inhalte auch aus den Köpfen der Wähler*innen verschwunden sind.

Neue Anstrengungen

Für die Zinnschmelze bedeutet das: „So wunderbar unsere Veranstaltungen auch sein mögen – was wir bislang tun, es reicht nicht.“ Barmbek braucht kulturelle und politische Bildung. Außerhalb der Schulen, regelmäßig, nachhaltig, in hoher Qualität. Mit lediglich einem Veranstaltungsraum samt Tresen ist das nicht zu machen. Räume für Kurse, Seminare und Workshops sowie ein weiterer, deutlich größerer Veranstaltungsraum stehen nun als dringendes Muss ganz oben auf der Tagesordnung. Trotz aller gebündelten Kraft des Netzwerks dauert es bis 2012, bis die nötige Finanzierung glücklich bewilligt wird. Weitere drei Jahre brauchen die Planung und der Bau.

Während der ganzen Zeit arbeiten die Zinnschmelzer*innen für ihr eigenes Programm wie für die Ziele des Netzwerks hart am Rand der Existenz und mit vollem persönlichen Einsatz. Sonja spricht untertreibend von geringen Personalressourcen. „Alles eingedampft“, sagt sie. Es ist einfach unablässiger Hochstress. Den kann nur ertragen, so kann sich nur verausgaben, wer seine Aufgabe wichtiger nimmt als sich selbst – und wer für lange Zeiträume davon absieht, mögliche Konflikte im Moment ihres Aufblitzens auszuleben.

Wachsen

Als sie 2013 die Zinnschmelze für die Bauphase schließen, ändert sich die Situation grundsätzlich. Plötzlich liegen die inneren Angelegenheiten des Vereins mitten auf dem Tisch. Die neuen Räume können nach ihrer Fertigstellung nicht einfach so bezogen werden. Sie verlangen nach neuen Inhalten, nach einer Vereinsstrategie, nach einem definierten Profil sowie nach sinnvoll strukturierter und geteilter Verantwortung. Aufgestaute Reibungshitze aus den Vorjahren trifft auf die Wachstumsschmerzen der Organisationsentwicklung. Solcherart angefeuerte Gruppendynamik führt nicht selten zum finalen Knall. Auch hier tut etwa zwei Jahre lang manches manche*r sehr weh. Der Verein schafft es. Er betraut Sonja mit der Geschäftsführung des nun viel größeren Hauses.

„Finanziell funktioniert es“, sagt sie, „weil die Angestellten ihre Ansprüche so weit reduziert haben, dass es funktioniert.“ Unbezahlte Arbeit bleibt also auch in der Zinnschmelze die Existenzbedingung von Soziokultur. Ihr Lohn kommt in ganz anderer Gestalt. Zum Beispiel zieht es jetzt „wahnsinnig viele junge Leute und Familien nach Barmbek-Nord. Wir sind wieder fast so jung wie der Hamburger Durchschnitt“, sagt Sonja.

Lohn: Anerkennung

Am 6. März 2015 können sie neu eröffnen. Von baulichen und ästhetischen Entscheidungen über öffentliches Dahinterstehen, finanzielle Obolusse, getragene Möbel, gekehrte Böden und geputzte Fenster – viele, viele haben gefördert und unterstützt. Logisch, dass sie nun ein wunderbares Fest feiern. Als tolles Hochgefühl kommt das erst am nächsten Morgen bei Sonja an. Sie geht quer über den Bahnhofsvorplatz auf die nagelneue, alte Zinnschmelze zu und spürt mit jeder Faser, was all die ihnen zuteilgewordene Tatkraft heißt: Ihr bedeutet etwas für Barmbek-Nord, wir schätzen eure Leistung.

Auf völlig andere, aber ebenso eindrucksvolle Weise wird ihr das im gleichen Jahr noch einmal gezeigt.

Lohn: Gebraucht werden

Geflüchtete brauchen außerhalb ihrer Unterkünfte mindestens einen Zweiten Ort. Wo sie nicht pauschal als Teil einer Gruppe wahrgenommen werden, sondern als Menschen mit ihren eigenen Begabungen, Fähigkeiten und kulturellen Ausdrucksformen. In Kooperation mit Welcome to Barmbek und der Hochschule für Musik und Theater entwickeln die Zinnschmelzer*innen 2015 das Projekt „Welcome Music Session“. Sie laden Menschen aller Herkunft ein, gemeinsam Musik zu machen oder einfach zuzuhören. Sie rechnen mit 80, höchstens 100 Teilnehmer*innen. Ein Ansturm von 200 bringt den neuen großen Raum fast zum Bersten, auf jeden Fall zum Klingen und Jubeln. Eine Woche später, zur gleichen Anfangszeit, kommt eine größere Gruppe junger Syrer ins Haus. Sie gucken sich um. „Wo ist denn die Musik?“, fragen sie. Das Projekt wird 2016 mit dem Stadtteilkulturpreis gewürdigt. Die Verstetigung gelingt. Im kommenden Juli wird die 50. „Welcome Music Session“ besonders gefeiert.

Lohn: inspirieren können

2018 übernimmt die Zinnschmelze eine Kooperationspartnerschaft im Projekt „Community Lotsen“. Neu Angekommene werden hier mit dem Kiez vertraut gemacht. Als sie während einer der Schulungen an einem Plakat mit der Aufschrift „Grundrechte“ vorbeikommen, möchten die Teilnehmerinnen das erklärt haben. Eingeborene Wurzeldeutsche denken nicht jedes Mal „Mein gutes Grundrecht!“, wenn sie gehen, wohin sie wollen, wenn sie lauthals die Possen des Staatsbetriebs Deutsche Bahn, den politischen Unfug einer Obrigkeit oder die Unzucht eines Würdenträgers beschimpfen. Aber „… die geflüchteten Frauen sind total darauf abgefahren“, erzählt Sonja. Aus der Idee, sich den Grundrechteartikeln nicht auf dem Weg von Politikunterricht zu nähern, sondern mit jedem davon künstlerisch umzugehen, entsteht das Projekt UNANTASTBAR. Es ist für den diesjährigen Stadtteilkulturpreis nominiert. So viele gedrückte Daumen.

 

Dieser Artikel ist erschienen in der SOZIOkultur 1/2020 Demokratie

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

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