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16.09.2024

Aktuelles, Demokratie, Kulturpolitik, Landesverbände

Das Grundgesetz gilt. Punkt.

Carsten Hiller vor den Wahlen über historische Entwicklungen und die aktuelle Situation in Brandenburg

Im Vorfeld der Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen stellen sich für die Situation der Soziokultur viele Fragen. Carsten F. Hiller, Geschäftsführer von ImPuls Brandenburg e.V., Landesverband für Soziokultur, Popularmusik und Festivals, positioniert sich im Gespräch mit dem Redaktionsteam des Bundesverbandes zu Entwicklungen und zur Lage in Brandenburg.

RT: Seit der Wende hat in Brandenburg in unterschiedlichen Konstellationen die SPD regiert. Es gab mehr als 30 Jahre lang eine strukturelle Mehrheit von Rot-Rot-Grün. Oder Rot-Schwarz und Grün. Wie im Moment. Das ändert sich gerade. Woran spürst du die politische Klimaänderung im Alltag?

Carsten: Mich erinnern einfach viele Dinge an die Zeit kurz vor und kurz nach der Wende.

Die Wendezeit war ein wildes, anarchistisches Aufblühen

RT: Ach? Déjà-vus also, an den bleiernen Sommer von 1989, in dem die sogenannte Partei- und Staatsführung so sprach- und ratlos war?

Carsten: Ja, durchaus, unter anderem. Mein Umfeld, meine Freunde und ich, wir waren sehr jung damals. In der allgemeinen Hilflosigkeit hatten wir das Gefühl, zu uns guckt keiner so richtig hin. Wir können machen, was wir wollen. Das haben wir auch. Wir fanden die Wende toll. So ein wildes, anarchisches Aufblühen.

RT: Aber ihr hattet auch mit der Deindustrialisierung zu kämpfen.

Carsten: Klar. Eine Menge junge Leute gingen weg, besonders Frauen. Es gab viel Frust bei jungen Menschen. Die Freiräume, die wir für unser eher links-anarchistisches Milieu gefunden haben, die haben auch Rechtsextreme gefunden und genutzt. Die waren – und sind! – nur ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung. Aber der Frust kann eben leicht bei ihnen andocken.

Wendezeit in Brandenburg: Soziokulturelle Zentren buchstäblich mit den Körpern verteidigt

RT: Wie seid ihr damit umgegangen?

Carsten: Soziokultur wurde zu einem Sündenbock, war etwas wie ein rotes Feindbild. Es gab viel physische Gewalt. Wir haben so manches soziokulturelle Zentrum buchstäblich mit unseren Körpern verteidigt. Aber in den Jahren seit der Wende hat sich die Zivilgesellschaft entwickelt. Die Politik ist quer durch die Parteien aktiv geworden.

RT: Es gab demnach ein Aufwärts …

Carsten: Für eine Reihe von Jahren ja, spürbar. Das änderte sich um 2015/2016 herum wieder. Und nicht nur wegen der sogenannten Flüchtlingskrise.

RT: Wir hatten 2016 eine Ausgabe des Magazin SOZIOkultur zum Thema EUROPA ERBEN. Da spielten multiple Systemkrisen eine Rolle.

Carsten: Eben, die haben die Menschen wahrgenommen und nehmen sie verstärkt wahr. Nicht als diffuses Gefühl, sondern als Abwärtstrend im Alltag. Ob Wohnungen oder öffentlicher Nahverkehr, es gab massive Strukturverluste im ländlichen Raum, Schließungen von Schwimmbädern, wachsende Mängel in der Gesundheitsversorgung … Überall Entwicklungen nach unten.

RT: Da kamen dann die Asylsuchenden sozusagen obendrauf. Sie konkurrieren ja bekanntlich nicht mit den gut Betuchten um Wohnraum, Bildung oder Ärzte, sondern mit denen, die ohnehin knapp leben.

Ostdeutsche sind besonders sensibel für Situationen, in denen das Offensichtliche entweder gar nicht ausgesprochen oder zurechtinterpretiert, eben irgendwie hingebogen wird.

Carsten: Richtig. Mir kommt es vor, als hätten viele Politiker bis jetzt nicht begriffen, dass da mit Parolen und hohlen Phrasen, auch mit dauernd wiederholten Bekenntnissen zu Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat rein gar nichts zu machen ist. Die bringen die Leute erst recht auf. Ostdeutsche sind besonders sensibel für Situationen, in denen das Offensichtliche entweder gar nicht ausgesprochen oder zurechtinterpretiert, eben irgendwie hingebogen wird.

RT: In der späten DDR gab es staatlich verordneten und propagierten Zweckoptimismus und an bröckelnden Mauern die Losung „Der Sozialismus siegt.“

Carsten: Deshalb riechen die Ostdeutschen Propaganda und hilflose Regierungen wirklich schnell. Sie haben auch einen Blick für politische Absurditäten, zum Beispiel wenn der Bau von Moscheen gefördert wird, obwohl dort das Grundgesetz der Gleichberechtigung der Frauen mit voller Absicht nicht gelten soll.

Wenn Soziokultur ohne Scheuklappen und nicht dogmatisch daherkommt, kann sie eine unglaublich starke Kraft sein.

RT: Was denkst du, was Soziokultur in dieser vielfach vertrackten Situation konstruktiv tun kann?

Carsten: Wenn Soziokultur ohne Scheuklappen und nicht dogmatisch daherkommt, kann sie eine unglaublich starke Kraft sein. Dazu muss sie die realen Voraussetzungen ihrer Arbeit zur Kenntnis nehmen.

RT: Das heißt?

Carsten: Zum Beispiel, dass die Leute sich nicht immer oder nicht mehr so stark für abstrakte Ideen begeistern können und dass viel Gewalt von allen Seiten unterwegs ist. Dass es zunächst einmal darum geht, angstfreie Räume zu schaffen und dann sehr konkret daran zu arbeiten, dass die Menschen sich gegenseitig verstehen und respektieren. Dafür haben wir ja sehr viele Mittel und Wege.

RT: In Brandenburg gibt es sicher wie in Thüringen und Sachsen auch nicht wenige Orte, in denen bis zur Hälfte der Wähler*innen sich für die AfD entscheiden. Da kann, was du eben gesagt hast, leicht blauäugig klingen.

Ich gehe davon aus, dass die tatsächlich Rechtsextremen seit 1989 nicht mehr geworden sind

Carsten: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, weshalb das eben gerade nicht blauäugig, sondern der Situation angemessen ist.

Erst einmal gehe ich davon aus, dass die tatsächlich Rechtsextremen seit 1989 nicht mehr geworden sind. Wir haben mehr Leute, zum Beispiel auch die zugezogenen Russland- oder Wolgadeutschen, die sogenannten Spätaussiedler, die sich sehr über ihr Deutschtum, also national definieren. Aber die sind ja nicht alle gleich rechtsextrem. Genauso wenig, wie alle Muslime Islamisten sind. Und auch nicht alle, die aus anderen nahöstlichen Ländern außer aus Israel zu uns kommen, sind Antisemiten.

Die AfD begegnet uns vor Ort überall - wir müssen mit ihnen umgehen. Einzige Bedingung: Das Grundgesetz gilt. Punkt.

Von einer Brandmauer gegen die AfD halte ich im Alltag nichts. Ihre Vertreter*innen begegnen uns vor Ort überall, in ganz konkreten Situationen. Wenn ich in einer Stadtverordnetenversammlung ein vernünftiges und nützliches Projekt vorstelle und anschließend ein Stadtverordneter kommt und sagt: „Herr Hiller, bei dem was Sie da vorhaben, unterstütze ich Sie hundertprozentig.“ – wenn sich dann dieser Mann als ein AfD-Mitglied herausstellt, soll ich dann von dem Projekt lassen?

Ja, das kann schwierig und unangenehm sein, trotzdem müssen wir mit ihnen reden, wie mit allen anderen auch. Einzige Bedingung: Das Grundgesetz gilt. Punkt.

RT: Im Blick auf Grüne oder die Linke hat man öfter mal gehört, man müsse sie entzaubern, indem man ihnen Regierungsverantwortung gibt.

Man muss jedem Menschen zugestehen, dass er sich im Lauf seiner Interaktionen mit Andersdenkenden ändert.

Carsten: Dabei wird davon ausgegangen, dass es nur darum geht, die jeweils unbeliebten politischen Mitbewerber*innen in ihrer ganzen Unzulänglichkeit vorzuführen. Das ist nicht mein Punkt. Erstens sind die nicht alle zwingend blöd. Zweitens muss man jedem Menschen zugestehen, dass er sich im Lauf seiner Interaktionen mit Andersdenkenden ändert. Sieht man der heutigen FDP noch an, dass ein Großteil ihrer Gründer*innen Nazis waren? Oder der Linken die SED-Betonköpfe von früher? Sind die Grünen noch so radikalpazifistisch wie 1980? Das ist nicht der Fall. Alle haben sich geändert.

RT: Im Moment hören und lesen wir dauernd mit großem Selbstbewusstsein vorgetragene Ressentiments, Pauschalisierungen und Vorurteile. Da hilft ein möglicher späterer positiver Wandel der entsprechenden Politiker*innen wenig.

Hat ein Teenie daheim eher rechtsextrem gestrickte Eltern, die sagen: Alle Muslime sind doof, dann hilft es sehr, wenn er in einem soziokulturellen Zentrum auf Augenhöhe einem muslimischen Teenie begegnet und feststellt, ich kenne zumindest eine Person, die nicht doof ist. Dann schließt er oder sie daraus: Die Alten daheim haben nicht immer recht.

Carsten: Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir, also auch die Soziokultur, die vielen im Einzelnen durchaus vielleicht kleinen Exempel schaffen, die genau diese Ressentiments und Pauschalurteile widerlegen. Hat ein Teenie daheim eher rechtsextrem gestrickte Eltern, die sagen: Alle Muslime sind doof, dann hilft es sehr, wenn er in einem soziokulturellen Zentrum auf Augenhöhe einem muslimischen Teenie begegnet und feststellt, ich kenne zumindest eine Person, die nicht doof ist. Dann schließt er oder sie daraus: Die Alten daheim haben nicht immer recht.

RT: Leider ist es aber nicht selten auch so, dass Teenies Dinge erleben, die rechtsextreme Parolen eher zu bestätigen scheinen.

Carsten: Wem sagst du das. Inzwischen haben wir auch in Brandenburg Schulen mit einem sehr hohen Ausländeranteil. Es ist einfach eine Tatsache, dass dort von den Gruppen der Zugewanderten vergleichsweise sehr oft physische Gewalt ausgeht. Es hat gar keinen Zweck, das laut überschweigen zu wollen. Wir müssen offen über all die Schwierigkeiten sprechen, die die Integration so mit sich bringt. Und dabei möglichst zeigen, dass die Populisten nicht wirklich die Lösungen haben. Wir müssen einfach unseren Job besser machen als die Populisten, Fanatiker und Dogmatiker.

RT: Soziokultur ist ja so etwas wie der kulturelle Antipode der AfD. Machst du dir Sorgen um die Zukunft?

Die finanzielle Situation der Soziokultur ist jetzt schon ein Desaster

Carsten: Ja und nein. Ja, weil die finanzielle Situation der Soziokultur jetzt schon ein Desaster ist. Nein aus einer Vielzahl von Gründen.

Ich glaube nicht, dass sich die Menschen das wegnehmen lassen, was sie jetzt an kultureller Freiheit haben. Viele unserer Mitgliedseinrichtungen machen auch Jugendarbeit. Da trauen sich andere politische Mehrheiten hoffentlich nicht so ohne weiteres ran.

Wir können und sollten viel selbstbewusster sein, wenn es darum geht, Begriffe und Handlungsfelder wie Heimat oder Tradition in unserem Sinne positiv zu besetzen.

Außerdem sind Krisen ja tatsächlich meist auch Chancen. Wir können und sollten viel selbstbewusster sein, wenn es darum geht, Begriffe und Handlungsfelder wie Heimat oder Tradition in unserem Sinne positiv zu besetzen. Viele Zentren sind selbst so stark Heimat, dass Nutzer*innen und Besucher*innen noch lange nach ihrer stürmischen Jungend und zum Teil aus weiter Ferne immer wieder nach Hause kommen. Oder sogar wieder „heimkehren“. Manche von Popularmusik getragene Festivals existieren inzwischen seit Jahrzehnten. Das sind doch auch unsere Traditionen.

RT: Euer Landesverband hat unter seinen Mitgliedern einen hohen Anteil an Festivals. In den anderen Bundesländern sind die Mitgliedseinrichtungen weit überwiegend als dauerhafte Anlaufpunkte und Dritte Orte sozusagen fest in ihren Kommunen verankert. Macht das eigentlich einen Unterschied?

Anerkennung und Offenheit von beiden Seiten: Die „Nation of Gondwana“ ist als Ehrenmitglied in die örtliche Freiwillige Feuerwehr aufgenommen

Carsten: Was die Ziele und Absichten der Soziokultur betrifft? Am Ende nicht. Da ist zum Beispiel das „Nation of Gondwana“-Festival. Die jeweils drei tollen Tage finden seit fast dreißig Jahren statt. Die Macher*innen begegnen den Menschen in Grünefeld, einer kleinen Gemeinde im Umland von Berlin, total entspannt und undogmatisch. Und sie gehören auf ihre Weise mittlerweile dazu. Während des Festivals kommen an die zehntausend Teilnehmende in den Ort. Sie machen Krach, aber sie lassen auch viel Geld und gute Laune da. Die Einwohner*innen sagen dann: Die verrückten Festivalleute sind echt okay. Und ihre Anerkennung geht bis dahin, dass sie zum Beispiel die „Nation of Gondwana“ als Ehrenmitglied in die örtliche Freiwillige Feuerwehr aufgenommen haben. So kann Soziokultur funktionieren.

RT: Das macht wirklich Hoffnung.

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Carsten F. Hiller ist Geschäftsführer von ImPuls Brandenburg e.V.

ImPuls Brandenburg e.V. fordert in seinem aktuellen Positionspapier 1,50 € pro Einwohnende Brandenburgs für Soziokultur, Popularmusik und Festival jährlich.

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