Das Lokalradio der Hansestadt Rostock – LOHRO – kann auf die Sympathie seiner Hörer*innen bauen.
Aufmerksamkeit …
… ist ein Schlüsselwort. Werbestrateg*innen wollen sie für Waren erzielen, da zählen schon Bruchteile von Sekunden. Aufmerksamkeit für andere gilt als alte Tugend und entscheidet über die Qualität sozialer Systeme. Deren Konfliktfähigkeit hängt von ihr ab.
Das nichtkommerzielle Radio der Hansestadt Rostock richtet seine Aufmerksamkeit auf das Engagement, die Bedürfnisse und Meinungen der Bürger*innen und will Aufmerksamkeit gewinnen – für aktuelle kulturelle, soziale, wirtschaftliche und künstlerische Entwicklungen.
Laut einer von der Landesmedienanstalt Mecklenburg-Vorpommern in Auftrag gegebenen Analyse erreicht das Radio LOHRO regelmäßig knapp 50 000 Bürger*innen, also mehr als jede*n Vierte*n von Rostock und Umgebung. Pro Woche hören sie dem Programm durchschnittlich ungefähr eine Stunde zu und geben ihm zu fast zwei Dritteln die Noten Eins und Zwei. Unter allen Bürger*innenmedien Mecklenburg-Vorpommerns – Radio und TV – gibt es kein besseres Ergebnis. Auf die Beine gestellt haben es mehr als 200 ehrenamtliche Mitmacher*innen in fast 50 Wort- und Musikredaktionen. Sie senden täglich 24, also Woche für Woche 168 Stunden.
Kultur, drucken und Zahlen
Radio LOHRO geht im Juli 2005 in Dauersendebetrieb. Es ist sozusagen ein spätgeborenes Wendekind. Sein Trägerverein, der Kulturnetzwerk e.V., besteht bereits seit dem Frühjahr 1990. Er will in Rostock und Umgebung kulturelle Projekte ermöglichen und unterstützen. Ingo Harry Körber gehört zu den Gründer*innen. Er ist damals Mitte Zwanzig, voller Energie und bereit, die neuen Chancen mit beiden Händen zu ergreifen. Von der ersten Minute bis heute arbeitet er im Kulturnetzwerk ausschließlich ehrenamtlich. Aus Begeisterung für das Drucken und um aus sozialer Verantwortung heraus etwas für die Wirtschaft im Land zu tun, macht er sich, während um ihn herum die volkseigenen Betriebe in Scherben fallen, mit der Altstadt-Druck GmbH selbstständig. Die Firma hat neun Beschäftigte und ein Zertifikat für Klimaneutralität. Preise, Kennziffern, Kostenstellen, Kalkulationen gehören fest zur Begleitmusik von Harrys täglicher Arbeit. Ein Segen für den Verein. Von Anbeginn und ununterbrochen erledigt Harry dessen Buchhaltung, später die von LOHRO dazu, ganz relaxt, als „kleinen Bruder der Firmenbuchhaltung“, wie er sagt.
Spenden, stützen, fördern
Kristin Schröder arbeitet nach ihrem Politik-Soziologie-Studium im Gründungsjahr von Radio LOHRO ehrenamtlich in der Politikredaktion mit, bevor sie für einige Jahre nach Berlin geht. 2013 kommt sie als Geschäftsführerin zu LOHRO zurück. Von einer hunderttägigen Schonfrist kann sie nur träumen. Sie hat sich hier halbtrainiert in sehr tiefe Wasser gestürzt. Ohne jeden Abstrich am Sendebetrieb muss LOHRO in ein neues Gebäude umziehen.
Dazu fehlen obendrein 50 000 Euro und daheim verlangt ein anderthalbjähriges Kind nach der Zuwendung der Mutter. In Zusammenarbeit mit der GLS Bank gelingt es ihr, eine Leih- und Schenkgemeinschaft zu bilden. Dank des Engagements der Mitmacher*innen gelingt auch Crowdfunding.
Die Spendenbereitschaft der Bürger*innen haut sie um. Von vielen privaten Leuten gehen mal zehn, mal zwanzig Euro aufs Konto ein. Damit, dass Radio LOHRO so stark von der Bevölkerung getragen wird, hat sie nicht gerechnet. Das Wissen, dass es so ist, hilft dann immer wieder über finanziell brenzlige Situationen. Ab und zu passiert es, dass ein Zuwendungsgeber im Dezember einen Brief schreibt: Ab Januar gibt’s von uns nix mehr. Pro Jahr wendet die Landesmedienanstalt 35 000 Euro zu. Allein die Miete beläuft sich jedoch auf 40 000 Euro. Aktuell speist sich Radio LOHRO aus neun verschiedenen Töpfen.
Ohne den Förderverein ginge gar nichts. Seine etwa 550 Mitglieder sichern mit ihren Beiträgen und Spenden einen existenziell wichtigen Teil des Fundaments. Sie bringen die Eigenmittel auf, ohne die nun mal nicht an Fördermittel heranzukommen ist.
Fettnapf statt Fete
Kaum sind die Nachwehen des Umzugs glücklich ausgestanden und das Radio im neuen Gebäude einigermaßen gesettelt, ausgerechnet in dem Frühjahr, in dem LOHRO seinen zehnten Geburtstag vorbereitet, führt ein schwerer Fehltritt zu starkem Wellengang. In einer Nachtsendung beleidigt ein Studiogast on air den Oberbürgermeister. Und zwar nicht im Sinne einer abzuwinkenden Majestätsbeleidigung, sondern echt. Ist eine Institution so prekär aufgestellt wie Radio LOHRO, kann es bei einem Mückenhusten um Sein oder Nicht-Sein gehen. Also ganz dünnes Eis plötzlich, viel Entsetzen, viel blanke Nerven. Von „Weckruf“ über „Watt up Platt“, „Polittalk“, „Literatur“ bis „Cup of Soul“, „Phlegmaexpress“ und, und, und – alle Musik- und Wortsendungen sind im Zweifelsfall in Gefahr.
Jetzt hat ein Studiogast, der von den ehrenamtlichen Moderator*innen nicht ernsthaft gestoppt wurde, einen Grund geboten, aus dem die Landesmedienanstalt die Lizenz zurückziehen und die Stadt Rostock den Zuschuss verweigern kann.
Der Verein und das Radio entschuldigen sich umgehend, auch schriftlich. Sie lassen die betreffende Redaktion erst mal nicht mehr auf Sendung gehen. Als bräuchte es noch eine extra saure Kirsche auf dem herben Cocktail, berichtet eine Regionalzeitung falsch und druckt Verleumdungen über Radio LOHRO ab. In diesem Sommer stammen die Kopfschmerzen zuallerletzt vom Kater nach der 10-Jahres-Party.
Kommunikationskultur
Doch blanke Nerven hin oder her – dem Senderteam ist klar: Bei der Frage nach dem richtigen Ton geht es nicht um einen Kotau, sondern um alles. Und dies nicht lediglich finanziell, sondern kulturell. Im Jahr 2015 greifen im Internet Hatespeeches und Hateculture um sich. Wenn hier nicht Bürgermedien eine Vorbildfunktion ausüben, wer soll es dann tun.
Radio LOHRO investiert ein halbes Jahr harter Arbeit in die Nachschulung der Sendungsmacher*innen, in die intensive Diskussion der Redaktionsstatuten, in die weitere Profilierung des Fahrscheins für Sendungsmacher*innen … Kristin sieht es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die Leidenschaft und das Engagement für das Radio am Brennen zu halten, trotz der professionellen Routinen, die auch gebraucht werden, und trotz des Frustes, der aus der hohen Belastung aller aktiv Beteiligten immer wieder geradezu zwingend entstehen muss. Nicht zuletzt auch deshalb wirbt sie, wo sie geht und steht, um neue Mitmacher*innen. Frische Begeisterung steckt einfach an.
Doch bevor die Neulinge on air dürfen, muss in Wochenendkursen der Fahrschein für Sendungsmacher*innen erworben werden. Hier steht an erster Stelle die Auseinandersetzung mit der Philosophie, den journalistischen und rechtlichen Grundlagen von LOHRO. Technisches und Fachwissen über Schnitt und Aufnahme, Interview, Sprechen, Moderieren oder Recherchieren kommen erst danach.
Verantwortung
Was für Druckerzeugnisse der oder die Verantwortliche im Sinne des Pressegesetzes ist – V.i.S.P. –, ist beim Radio der oder die Programmverantwortliche. Er oder sie muss formale Aufgaben erfüllen, neuen Sendungen auf Antrag zustimmen oder nicht, das ganze Radio immer im Blick haben und darüber wachen, dass die Macher*innen sich der Grenzen bewusst sind, zwischen dem, was geht, und dem, was eben nicht geht. Im Kontext des 2015er Sommeralbtraums kommt Radio LOHRO die damalige Programmverantwortliche abhanden.
Es muss sehr schnell jemand einspringen. Harry stimmt zunächst zu, diese Verantwortung interimsmäßig, für etwa zwei, drei Monte zu übernehmen. Das hat er vor einigen Jahren in einer ähnlichen Situation schon einmal gemacht und die Funktion dann gern wieder abgegeben. Doch jetzt ist es anders. Seine Kinder sind aus dem Haus, sagt er, also findet er Zeit, sich gründlich einzuarbeiten. Unter seinen Bekannten und Freunden kursiert der Satz: „Harry kannst du eine Freude machen, wenn du ihm ein Projekt vorschlägst.“ An Puste fehlt es ihm nicht.
Sein persönliches Projekt heißt nun also Programmverantwortung. Ursprünglich bedeutet Rundfunk für ihn: komplettes Neuland. Die alten Radio-Hasen beäugen ihn am Anfang misstrauisch. Harry hört erst mal viel zu, wartet ab und verschafft sich einen qualifizierten Überblick über das Gelände, in dem er zielführende Schritte setzen will. So gewinnt er Vertrauen.
Normalzustand Trubel
Radio LOHRO ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Dauernd geht auf Sportplätzen, in Aufführungen und Veranstaltungen, im Stadtrat oder einer Begegnungsstätte irgendwo in Rostock die Post ab. LOHRO fängt die O-Töne ein und berichtet. Im Hintergrund gilt es dabei immer, die mehr als 200 Macher*innen mit ihren knapp 50 Redaktionen, unzähligen Interessen, Meinungen und Perspektiven unter einen Hut zu bringen. Mal meinen die einen, die Tagesredaktion fresse zu viel Zeit, dafür könne man keine*n begeistern, während die anderen sie als Lebensquell des ganzen LOHRO sehen. Die einen drängen darauf, LOHRO crossmedial aufzustellen und entsprechende Mühe in den Social-Media-Auftritt zu stecken, andere fühlen sich unzuständig und möchten nur Radio pur liefern. Unentwegt kommen neue Macher*innen, fühlen sich manche nicht richtig wahrgenommen, haben wieder andere eine technische Sorge. In der Hitze der Gefechte eskaliert schon mal was, das will dann eingefangen und zu einer akzeptierten Lösung geführt sein. „Am Ende“, sagt Harry, „geht es darum, die Arbeit vernünftig zu teilen. Man muss immer wieder gucken, wo ist Potenzial, was kann man nutzen. Manchmal muss man eben einen neuen Weg finden.“ Zum Bespiel wenn LOHRO nicht mehr lange auf UKW 90,2 MHz ausstrahlen kann. Auf das digitale Übertragungssignal DAB+ umzuschalten ist langfristig eine technische Überlebensfrage. In einem bundesweit einmaligen, zweijährigen Kraftakt realisiert der Techniker Philipp Markwardt diesen Prozess komplett ehrenamtlich und nahezu kostenneutral.
Echte Lorbeeren
Dass es LOHRO gelingt, das Miteinander der vielen erfolgreich zu koordinieren, lässt sich auch am Medienkompetenzpreis ablesen, den die Stadtteilredaktion 2022 erhält. Darüber freut sich Kristin, klar. Mehr noch allerdings darüber, dass LOHRO im täglichen Leben der Stadt sehr ernst genommen wird. Lädt es im Vorfeld von Wahlen zu Talkrunden ein, dann kommen die Kandidat*innen. Keine Frage. Die Hörer*innen mögen es besonders, dass sie es bei LOHRO eben nicht mit glattgeschliffenen Profis zu tun haben. Im Kommentarkasten der Website amüsieren sie sich mitunter geradezu liebevoll über die kleinen Patzer oder Versprecher ihrer radiomachenden Mitmenschen.
Dada als Zündung
1916 betraten die Dadaisten die Bühne, um hergebrachte Kunst und Kunstformen samt der sie begründenden bürgerlichen Ideale nach Kräften zu verscheißern. Hundert Jahre später denkt Harry: Das ist doch eine Sendung wert. Zum ersten Mal traut er sich und macht sie selbst. Die Freude, mit der er sein Ehrenamt ohnehin ausfüllt, ist nichts gegen das Glück des Gelingens, als die Dada-Sendung dann ausgestrahlt wird. Es folgen weitere und weitere.
In seiner Firma oder beim Einkaufen trägt er ja kein Schild um den Hals, auf dem LOHRO, Macher, Programmverantwortlicher steht. Er wird trotzdem erkannt. Ein neuer Geschäftspartner oder der Typ im Fahrradladen sagt: Moment mal, die Stimme kenn ich doch, bist du nicht der, den ich gestern im Radio gehört hab?
Was will man mehr.
Dieser Artikel ist erschienen in der SOZIOkultur 2/2023 Audio