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27.03.2023

#ENERGIE, beispielhaft, Magazin SOZIOkultur, Porträt

Die Other Music Academy in Weimar – Ernsthaft für das Leben spielen

Von: Dr. Edda Rydzy

Die Other Music Academy OMA – wurde im Oktober 2022 vom Fonds Soziokultur mit dem „Innovationspreis Soziokultur“ ausgezeichnet, der unter dem Motto „Wirksame Visionen für eine nachhaltige Zukunft“ stand. Ihre Art und Weise, mit Menschen, Kunst und kulturellen Herausforderungen umzugehen, macht sie zu einem Kraftwerk für positive soziale Energie.

Kontraste

In Thüringen öffnen sich durch Berge und Bäume unzählige Blicke auf kleine Orte zwischen sacht gerundeten Feldern. Man kann sich leicht als argloser Passagier in einer Modelleisenbahn fühlen und den Gottesbeweis für erbracht halten. Wo sonst schließlich soll die heimelige Schönheit herkommen. Nichtsdestotrotz zeigen die Hiesigen ab und zu eine gewisse Neigung zu radikalen Schwenks. Gegen Ende der Weimarer Republik wird das Land noch vor Hitlers Wahlsieg zum braunen Mustergau. Die Spitzengenossen der nachfolgenden Staatsordnung sind als besonders Dreihundertprozentige bekannt. Dann wollen die Thüringer*innen keine andere DDR. Sie wollen es ganz anders und wählen 1990 mit absoluter Mehrheit eine schwarze Volkskammer. Davon versprechen sie sich blühende Landschaften.

Die bleiben aber erst einmal schmerzlich abwesend. Es brodelt in den neuen Bundesländern, so, dass in Halle Eier auf den Einheitskanzler fliegen. Dem ist klar: Da es im Osten wirtschaftlich existenziell kracht, muss er immerhin symbolisch etwas tun. Weil hier Goethe und Schiller thronen und weil die Stadt so übersichtlich ist, dass man sie mit relativ geringem Investitionsaufwand runderneuern kann, wird Weimar zur Europäischen Kulturhauptstadt 1999 erkoren.

Weimarer Boden

Alan Bern, Komponist, Pianist, Akkordeonist, Musikpädagoge, Kultur- und Bildungsaktivist aus Bloomington, Indiana, zieht 1987 nach Berlin. Seine erste Bekanntschaft mit Weimar schließt er Mitte der 1990er ganz privat, um ein Theaterstück von Joshua Sobol am Deutschen Nationaltheater zu sehen. Er kommt, noch vor den umfangreichen Sanierungen, an einen seltsamen Ort. In grauen Fassaden und maroden Straßen bröckelt die Erinnerung an die DDR vor sich hin. Manche der Bürger*innen haben die deutsche Klassik solange gelöffelt, dass sie sich eher für deren Schöpfer denn Erben halten. Andere fühlen sich als Fußabtreter der Nation. Goethes edel sei der Mensch, hilfreich und gut geht ihnen schlicht am Hintern vorbei. Etwas vor den Toren der Stadt liegt das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Allein nach der Progromnacht im November 1938 werden über 10 000 Juden hierher gebracht. Insgesamt werden in acht Jahren mehr als 56 000 Menschen durch Folter, medizinische Experimenten oder Auszehrung umgebracht. Für das dazugehörige Krematorium macht das zirka 200 verbrannte Menschenkörper pro Tag.

Es liegt auf der Hand, dass Weimar jüdische Kultur braucht. Nicht als Versuch von Wiedergutmachung. Für sich selbst und seinen lebendigen Alltag.

Klezmer und das Andere

1997 erhält Alan die Einladung, mit seiner Klezmer-Gruppe Brave Old World in der Herderkirche ein Konzert zu geben.

Es geht bei Klezmer um viele Möglichkeiten von Musik und um viel mehr als Musik. 1998 gibt Alan nach seinem Konzert auch einen Workshop. Dies im Rahmen der Europäischen Sommerakademie, zu der 300 Studierende aus 26 Ländern nach Weimar gekommen sind.

Alan ist schon wieder abgereist, da lungern neben den Statuen von Goethe und Schiller auf dem Theaterplatz tagelang mehr als dreißig glattgeschorene Jugendliche. Sie zielen mit Bierbüchsen, werfen einen Pflasterstein knapp an einer französischen Sprachlehrerin vorbei. „Sieg Heil“, grölen sie, „Polensau“ und „Geht heim in euer Scheißland“.

Den Drang, jemanden in der Hackordnung unter sich zu haben, auf den man herabschauen kann, sich in Abgrenzung zu den anderen, den unteren, als Mitglied einer Gemeinschaft zu präsentieren und daraus persönliche Sicherheit zu ziehen, diesen Drang gibt es solange wie die Menschheit. Sein innerster Antrieb rührt aus Angst vor dem Ausgeschlossensein oder um die Existenz. Der Antisemitismus mit der Folge des Holocausts ist seine bislang schlimmste, aber eben nur eine von unendlich vielen Varianten.

Wachsen wider Vorurteil und Angst

Weil das so ist, engagiert Alan sich nicht einfach für jiddische und andere jüdische Dinge. Er engagiert sich in seinen Projekten dafür, dass Menschen einen menschlichen Umgang mit den jeweils anderen lernen. Was kann und muss gegeben sein, fragt er, damit Menschen die innere (Angst)Freiheit erlangen, die es erlaubt, dass sie tatsächlich Communities auf Augenhöhe bilden? In seinen Projekten schließt er als geltende Sitten aus: Hierarchien, die Pflege von Vorurteilen, alle Privilegien und allen Dünkel, wie sie gewöhnlich aus der gesellschaftlichen Stellung, aus akademischen Graden oder öffentlichen Erfolgen abgeleitet werden. Wer hier wirkt, hat unabhängig von seiner konkreten Aufgabe oder Aktivität das gleiche Recht, ernst genommen und gehört zu werden, wie alle anderen. Daraus entsteht ein besonderes Klima, das sich mit der Leidenschaft des Klezmer zu einem Sog verbindet. Viele entwickeln das Bedürfnis, dabei zu sein. Intensiver und länger als nur bei einem Konzert, einem Workshop oder für einen Tag. Schon 1999 gibt es eine ganze Klezmer-Woche. Von Jahr zu Jahr kommen mehr, bleiben länger, befassen sich mit jiddischer Kultur, mit der Sprache, mit den Beziehungen, die es zu anderen jüdischen Kulturen in Europa gibt. Dafür reicht die Überschrift Klezmer-Woche nicht aus. Aus den Bedürfnissen und Bindungen der Teilnehmenden wächst also, was sich so nicht hätte planen lassen – der Yiddish Summer Weimar.

Wer hier wirkt, hat unabhängig von seiner konkreten Aufgabe oder Aktivität das gleiche Recht, ernst genommen und gehört zu werden, wie alle anderen.

Schön, dass du da bist

Unmittelbar nach ihrem Studium möchte Katrin Füllsack im Weimarer Sommer eigentlich bei den italienischen Nächten mitmachen. Die gibt es aber nicht mehr. „Geh‘ doch zum 'Yiddish Summer'“, schlagen die Veranstalter vor, „die brauchen noch jemanden.“ Klingt auch interessant, denkt Katrin, und tut‘s.

Alan eilt ein Ruf voraus. Über seine Fähigkeiten und Virtuosität werden bis zur Washington Post Hymnen gesungen. „Dann kommt da ein total lässiger Typ“, erzählt Katrin, „der sagt auf dem Heimweg von einer Veranstaltung, schön, dass du da bist, fragt mich, wie’s mir geht und bedankt sich fürs Essen.“ Für sie ist das der Auftakt einer Seinsweise, die sie nirgendwann und nirgendwo anders je so erfahren hat, von der sie sagt: „Das ist mein Leben, hier will ich nicht weg.“ Diese Nähe zwischen Dozierenden, Lernenden und Teilnehmenden. Kein Problem, wenn du etwas falsch machst. Das heißt nicht, dass du nicht genügst. Du bist immer sicher, jemand aus der Gruppe weiß eine Lösung oder einen besseren Weg. Du hast schon Stärken, gemeinsam finden wir die noch verborgenen. Wir schaffen die Freiräume, in denen wir uns miteinander entwickeln und wachsen können.

Wachsen und spielen

Katrin bleibt dabei und ist dabei, als das Projekt aus der Komplexität des Jüdischen in eine noch größere Komplexität wächst. 2006 gehört sie zu denen, die den Other Music Academy e.V. gründen. Weil sich Jahr für Jahr immer neue Leute mit immer neuen Ideen genau hier, in genau dieser Art des Umgangs miteinander einbringen wollen, weil der Verein Jahr für Jahr aufs Neue den Platz dafür schafft, bringt er einen ganzen Kosmos an Projekten und Möglichkeiten zwischen Kunst, Musik, Handwerk, Kabarett und und und hervor. „Wir sind ein ‚Safe Space‘“, sagt Katrin, „für die Menschen, die diesen Raum brauchen, um anzukommen, sich zu begegnen und kennenzulernen, um sich zu entfalten und Unterstützung zu erhalten.“

Als eine der nächsten Aufgaben steht vor ihnen, auch eigenen Raum für die Kinder der Teilnehmenden zu schaffen. Sie könnten einen Schwung Spielzeug kaufen, es in ein Zimmer stecken und eine Aufsicht dazu. Fertig. Doch was ist das überhaupt – das Spielen? Es dreht sich nicht um Sachen. Dabei geht es ums Miteinander. Kein Kind spielt jemals allein, es hat immer mindestens einen imaginären Gefährten dabei und es fragt nach allem, was es gerade wissen muss. Im unbefangenen, zielorientierten Fragen liegt der Unterschied zwischen lustvollem Lernen und Pauken. Und: Unbefangenheit ist ein anderes Wort für innere Freiheit. Weil darin der Sinn ihres Engagements besteht, wird die OMA keinesfalls einfach Zeug kaufen.

Visionärer Realismus

Das Kernkonzept der OMA ist alles andere als ein Luftschloss auf Wolke sieben. Es rührt an den neuralgischen Punkt einer ganzen Epoche. Seit die Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert zur Blüte kamen, seit die große Industrie die Produktion revolutionierte, denken manche, der Mensch sei der Herrscher der Natur und könne nach Belieben immer neue Quellen unerschöpflichen Reichtums sprudeln lassen. Darin unterscheidet sich Marx nicht vom nächsten Neoliberalen. Diejenigen, die die Risiken und Nebenwirkungen solcher Hybris antizipieren, verlangen, der Mensch solle sich an seine Grenzen halten. Beides hilft nicht. Der springende Punkt ist ein Perspektivwechsel. Sich in Grenzen einzurichten, sich über sie zu definieren, kommt der Selbstverstümmelung nahe. Im Keim aller OMA-Projekte geht es nicht um Grenzen, sondern um Möglichkeiten. Es wird immer zuerst gefragt: Wie sind wir, was wollen und können wir tatsächlich sinnvoll tun, aus uns selbst heraus und aus den Dingen, die uns umgeben. Solch visionärer Realismus erzeugt positive soziale Energie, bringt zum Beispiel weit ab vom Meer in Altenburg das kulturbeladene Segelboot „Mary Jane“ vor den Wind, ein Puppenstück aus Müll auf die Bühne und vor allem viele Leute und Strukturen in Kontakt, die nun etwas miteinander anfangen können und werden.

Wie sind wir, was wollen und können wir tatsächlich sinnvoll tun, aus uns selbst heraus und aus den Dingen, die uns umgeben?

Kummer und breite Schultern

Selbstverständlich schweben bei der OMA nicht alle immer auf unablässigem Hochgefühl. Die Stadt unterstützt sie, zum Beispiel 2009 mit dem auf 33 Jahre angelegten Erbpachtvertrag für eine ehemalige Schule. Katrin verantwortet deren Sanierung, eine kraftraubende never ending story.

Bodo Ramelow vollzieht den Geist des Grundgesetzes in institutioneller Konsequenz und beruft 2015 Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden zum obersten Landesverfassungsschützer. Doch in Weimar gießen Rechtsextreme brennbare Flüssigkeiten auf Stolpersteine und zünden sie dann an. Sie wollen die OMA als das Gegenteil allen Herrenmenschentums weg haben. Beim Stadtrat beantragen sie, das Haus zur Flüchtlingsunterkunft zu machen.

Außerdem bedeutet Hierarchiefreiheit nicht, dass es keine Konflikte gibt. Man kann sich das vielleicht als eine Art Gravitationssystem vorstellen, dessen Teile sich einander zugewandt miteinander bewegen. Dauernd kommt jemand Neues hinzu oder macht jemand persönliche Entwicklungsschritte. Die Bahnen müssen dann geändert werden. Dabei wird niemand zu einer verzichtbaren Sache oder zu überflüssigem Humankapital. Doch natürlich entstehen Reibungen und Schmerz. Gerade wegen der wirklich engen, vertrauensvollen Bindungen im OMA-Team geht er direkt ans Herz. Das kann mitunter schwerer Kummer sein und gehört eben auch dazu.

Die Wirkungsmacht der OMA wird durchaus von außen gesehen. 2022 erhält sie für Altenburg am Meer – eine soziokulturelle Flusspartieden „Innovationspreis Soziokultur“ des Fonds Soziokultur, Alan das Bundesverdienstkreuz . Doch vor allem wird sie von den Teilnehmenden gefühlt, nicht selten als Offenbarung. Eine Dreizehnjährige steht während eines Projekts auf und hinter der Bühne, lernt mit der Bohrmaschine umzugehen und was nicht alles dazu. Geradezu überwältigt sagt sie dann: Ich wusste gar nicht, dass das alles eins ist, arbeiten und lernen, Spaß und Unterhaltung.

Die OMA macht‘s möglich.

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

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