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25.09.2024

Aktuelles, beispielhaft, Veranstaltung

Alles aus Lehm: Höhlen, Monster und und und

Von: Dr. Edda Rydzy

Noch bis zum 29.09. findet in Hamburg, in der Bahnhofspassage vor der S-Bahn Wilhelmsburg, die Ausstellung des diesjährigen Lehmbaufestivals statt. Eintritt frei.

Wir erleben die Demokratie seit Längerem zunehmend im Verteidigungsmodus. Die einen verteidigen die geltenden Spielregeln, andere das, was sie als hier Geborene für ihre Rechte und Vorrechte halten. Nicht selten tritt in den Hintergrund, wie überhaupt unter den durch Geburt oder Wanderung Hinzugekommenen demokratische Verhältnisse täglich neu geschaffen werden. Es geht um die elementare Aufgabe, zwischen Menschen, die durch Milieus, Bubbles, Alter, durch Bildungs-, Glaubens-, soziale oder körperliche Dispositionen voneinander getrennt sind, lebendige, konstruktive Bindungen entstehen zu lassen.

Genau das ist es, wofür der gemeinnützige Verein Bunte Kuh e.V. mit dem Lehmbaufestival seit 40 Jahren wirkt.

Starker Verein: Bunte Kuh e.V.

Das jährlich stattfindende, kostenlose und mehrwöchige Projekt verbindet zirka 6000 Kinder, ihre Eltern, Freund*innen und Pädagog*innen. Sie bauen gemeinsam nach eigenen Entwürfen eine immer völlig neue Stadt aus Lehm. Damit das gelingt, unterstützt sie das Team von Bunte Kuh. Darin arbeiten viele ehrenamtlich und neben dem Geschäftsführer und Projektleiter sowie der Verantwortlichen für PR, Dokumentation und Evaluation seit Jahren um die 25 freie Mitarbeiter*innen auf Honorarbasis. Sie kommen aus fünf Nationen, sind Künstler*innen, Architekt*innen, Bauingenieur*innen Keramiker*innen, Sozialpädagog*innen, Lehmproduzenten.

Der Verein erhält keine institutionelle Förderung. Die rund 250 000 Euro, die das Lehmbaufestival braucht, müssen Jahr für Jahr neu beantragt und eingeworben werden.

Schöpfen

Spiritus Rector des Projekts, das die vielen Teilnehmenden alljährlich kaum erwarten können, ist Nepomuk Derksen. Er kommt 1956 als zweites von acht Geschwistern in einer Pädagogenfamilie zur Welt, studiert überwiegend in Hamburg, aber auch in Berlin und Frankreich Kunst und Architektur. Er weiß, sozusagen von Kindesbeinen an, was Bildung für Kinder und was Kunst für Bildung bedeutet. Mit einem Kunstverständnis, das sich im Dreieck von Markt, Distinktion und einsamer Arroganz bewegt, kann er nichts anfangen.

Kunst ist für ihn eine andere Art von Sprache, in der sich alle ausdrücken und miteinander verständigen können sollen. Partizipation gehört also zu den grundlegenden Ansprüchen seines künstlerischen und sozialen Handelns.

Lehm als Symbiose von Architektur und Skulptur

Schon während des Studiums hat er die Idee, Architektur und Skulptur zur Symbiose zu bringen. Dafür Lehm zu verwenden liegt nahe. Das Material kann Lasten tragen. Vor allem ist es leicht formbar. Unabhängig von Alter und Geschlecht, Vorbildung oder physischer Konstitution kann beinahe jeder Mensch damit umgehen.

Dem Lehm wohnt auch eine paradoxe Symbolik inne. Als Gott Adam formte, benutzte er dazu sicher weder Torf noch trockene Ackerkrume, sondern vermutlich eher lehmige Erde. Gleichzeitig lässt sich aber gerade mit Lehm leicht beweisen: Menschen sind nicht Objekte, sie sind Subjekte der Gestaltung. Ihnen wird nicht von außen Leben eingehaucht, sie tragen den Funken in sich. Und dies nicht nur als Möglichkeit, sondern als Bedürfnis. Hindern Umstände sie daran, in ihrem Leben selbst gestaltend zu wirken, fühlen sie sich als ohnmächtig Geworfene, was wiederum in Aggressionen und Depressionen mündet.

Die aktuell krisen- und transformationsgeschüttelte Demokratie ist existenziell auf Räume angewiesen, in denen Menschen ganz unmittelbar erfahren, dass sie gemeinsam mit anderen, mit Unbekannten, mit Fremden selbst gestaltend wirksam werden.

Mehr als Anekdoten

Das Konzept des Bunte Kuh e.V. funktioniert. Davon zeugen 16 Auszeichnungen und Preise, ein Netz von zirka 100 Kooperationspartner*innen und vor allem: tausend kleine Begebenheiten und Erlebnisse während der Festivals:

  • Eine extrem schüchterne Frau ringt sich durch, sich an einen der Tische zu setzen und sich ein Stück Lehm zu nehmen. Daraus formt sie wunderschöne Bäume. „Hier finde ich meine Seele wieder“, sagt sie.
  • Hamburg hat schon vor mehr als zwanzig Jahren Erfahrungen mit extrem Rechten in der Stadtregierung gemacht. Dazu gehört, dass Obdachlose und Junkies aus dem Zentrum vertrieben wurden. Einer davon lebt seit Jahren versteckt im Gebüsch des Parks. Barfuß, aus zweihundert Meter Entfernung, verfolgt er das Geschehen beim Lehmbaufestival, kommt zögernd immer näher und näher, holt sich schließlich einen Klumpen Lehm. Es ist, als ob ihm die organisch-plastischen Strukturen direkt aus den Händen fließen. Sie krönen dann die Lehmbauten mit kathedralenartigen Turmspitzen.
  • Ein Achtjähriger aus Afghanistan ist erst seit drei Wochen da. Er spricht kein Deutsch und modelliert Riesen mit zwei Köpfen, voller Kraft und Zuversicht. Später hilft er, die Riesen als vier Meter hohe Skulpturen zu bauen.
  • Zwei migrantisch wirkende junge Männer stehen am Rande und gucken ein bisschen zu. Nach anderthalb Stunden setzen sie sich zu einem Vater mit zwei blonden Söhnen. Einer der beiden drückt und rollt den Lehm zu zauberhaften Tierfiguren. Die Kinder sind begeistert. Der Vater fragt: „Woher kommst du?“ Er kommt aus Syrien und hat Angst, das preiszugeben. Es ist kurz nach Solingen. Sie verabreden sich zu weiteren Gesprächen.

Wachstum: Das Lehmbaufestival wächst und wächst

Seit dem Beginn im Jahr 1985 wächst und wächst das Festival. Karen Derksen lernt es – und ihren Mann Nepomuk – 1986 kennen. Jahrgang 1962 studiert sie in Hamburg, Tübingen und Florenz Germanistik und Romanistik, arbeitet dann unter anderem in einem Verlag und bei Greenpeace.

Über die Jahre verfolgt sie, wie sich das Lehmbaufestival nicht nur der Größe nach ändert. Hauptsächlich über die Kinder entstehen dauernd Begegnungen zwischen Menschen, die sich bis dahin nicht kannten. Sie kommen wieder und bringen Freund*innen mit. Haben in den ersten Jahren hauptsächlich die Mamas ihre kleinen Baumeister*innen begleitet, nimmt dann die Anzahl der Papas stetig zu. Es gibt fast niemanden, der hier am Handy hängt.

2005 hat das Projekt eine Größe und Komplexität erreicht, die erfordern, dass jemand neben Nepomuk hauptamtlich die Verantwortung unter anderem für PR, für die Evaluation und Dokumentation und für tausenderlei organisatorische Aufgaben übernimmt. Karen steigt ein. Sie und Nepomuk, das ganze Team und die Teilnehmenden spüren hautnah, dass das Lehmbaufestival gute Spuren in der Gesellschaft zieht. Jetzt hat sich die Fern-Uni Hagen in Kooperation mit der Mercator-Stiftung aufgemacht, die Wirkungen ihres Projekts wissenschaftlich zu „messen“.

Kritische Zeiten

Wahrscheinlich war soziokulturelles Engagement wie das in der Bunten Kuh selten so notwendig wie gerade jetzt. Doch gerade jetzt wird es auch besondere Kraft kosten, das Lehmbaufestival kontinuierlich fortzuführen. Nepomuk und Karen sind mit ihm, sind organisch in seine hohe Komplexität hineingewachsen. Nun ist es an der Zeit, dass sie ihr Lebenswerk an die nächste Generation übergeben. Die es weiterleben lassen, werden sich neuen Herausforderungen stellen.

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

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