standard-logo

19.11.2021

#FRAUEN, Magazin SOZIOkultur, Porträt

Der Kulturbunker: Unheimlich heimatlich

Von: Dr. Edda Rydzy

Manchmal fügt es die Geschichte einfach wunderbar. In Köln-Mülheim zeigt sie Sinn für produktive Ironie. Um die Beschäftigten der Rüstungsbetriebe und deren Angehörige im Zweiten Weltkrieg am Leben zu halten, wird in der Berliner Straße ein Hochbunker errichtet. Er ist jetzt als Kulturbunker Treff- und Ausgangspunkt kulturellen Reichtums. Seine Geschäfte führt Sevgi Demirkaya.

Kein dolce vita

Sevgi wird in Malatya im Südosten der Türkei geboren. Als die boomende deutsche Autoindustrie um Gastarbeiter wirbt, ergreift Sevgis Vater die Chance. Ihre Eltern können sich lange nicht entscheiden, wo sie bleiben wollen. Wie viele Kinder ihrer Generation lebt Sevgi als Kofferkind erst in der Türkei, dann in Deutschland, wieder in der Türkei und schließlich ganz in Deutschland. Das und die neue Sprache erschweren den Bildungsweg. Sie schafft das Abitur und lernt bis dahin viel mehr als das Schulwissen. Als kurdische Aleviten sind ihre Eltern zwar liberaler als viele andere Einwandererfamilien, aber das traditionelle Rollenverständnis bleibt Streitthema. Sevgi darf nicht auf Klassenfahrten, nicht ausgehen, keinen Freund haben. Die schwierigsten Auseinandersetzungen um ihre Rechte müssen Frauen mit ihren Allernächsten führen, in der Familie. Die Eltern schwanken zwischen Tradition und Realität.

Sevgi behauptet sich und setzt sich schließlich durch. Zu Beginn ihres Studiums der Wirtschaftswissenschaft zieht sie aus. Um die gerade aufscheinenden Möglichkeiten der IT nutzen zu können, schließt sie einen Aufbaustudiengang in IT-Mediengestaltung an. Sie macht sich selbständig als Öffentlichkeitsberaterin für deutsche und türkische Unternehmen, die die Einwanderercommunities verstärkt in den Blick nehmen wollen.

Wandlungen

Richtig still wird es nach Kriegsende im Hochbunker nie. Bald nach dem Krieg nutzt man ihn als Hotel, dann für Proben, Konzerte, Theater, Kino, Ausstellungen, Tanz. Immer wieder wird hier etwas saniert, dort etwas umgebaut. Die Mülheimer*innen brauchen dringend einen Raum für öffentliches Kulturleben. Doch alle Versuche zeigen: Der Betrieb des Bunkers für Stadtteilkultur funktioniert auf Dauer privatwirtschaftlich nicht. Was sich kommerziell viel eher rechnet, sind Veranstaltungshallen, die mehrere Tausend Besucher*innen fassen. Davon hat Mülheim gleich drei. Viele Plätze also für zahlendes Publikum, aber keine Orte, an denen die Mülheimer*innen miteinander ihr eigenes Ding machen können. Aus einer Kulturinitiative heraus, die genau das will, gründet sich 1991 der Verein Kulturbunker e.V. Nach sechs Jahren haben sie den Kölner Rat so weit, dass er den Umbau zum Kulturbunker beschließt. Es entstehen ein neuer Treppen-aufgang, ein Ateliergeschoss, Seminar- und Büroräume sowie der Anbau eines Cafés. 2000 findet die Eröffnung des Stadtteilkulturzentrums statt.

Zu dieser Zeit studiert Vera Krämer, die heute Veranstaltungsmanagement, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Vermietungen verantwortet, gerade Kulturwirtschaft in Passau. Sevgi wohnt noch in Wuppertal, wo es ihr aber zu eng wird. Sie findet endlich im rechtsrheinischen Stadtteil Mülheim eine Wohnung.

Fürs Veedel

Die Arbeitslosigkeit liegt im Viertel mit knapp 13 deutlich über den 7,5 Prozent der Gesamtstadt. Jede*r dritte Einwohner*in ist Ausländer*in. Der Verein muss und will einen Spagat schaffen zwischen dem ständigen kritischen Umgang mit der Geschichte des Orts und den alltäglichen kulturellen Bedürfnissen der Mülheimer*innen. Ehrenamtlich und geduldig arbeitet der Verein für einen lokalen Kulturort mit offenen Türen und niedrigen Schwellen. Die Eintrittspreise müssen aufgrund der Sozialstruktur gering sein. Gleichzeitig sollen diese Einnahmen aus Vermietungen und die Gewinne aus dem Cafébetrieb das Kulturprogramm finanzieren. Das Kulturamt stellt lediglich die Mittel zur Unterhaltung des Baus zur Verfügung. Trotz der schwierigen Bedingungen reicht die Ausstrahlung des Programms bald weit über den Stadtteil hinaus.

Bevor es sich ergibt, dass Sevgi Veranstaltungen besucht, läuft sie oft am Bunker vorbei, ohne den Betonklotz bewusst als einen Ort der Kultur zu registrieren. Das ändert sich ungefähr zu der Zeit, als Vera im Kulturbunker angestellt wird. Vera fühlt sich dort sofort unendlich wohl. Sie liebt es, wenn mit unterschiedlichen Formaten das ganze Haus bespielt wird. Die Hörspielmesse, das Kneipenhopping der Mülheimer Nacht!

Kultur als Sozialfall

Ende 2012 muss die Stadt sparen. Das Kulturamt beschließt, sich auf die „professionelle Kunstszene“ zu konzentrieren. Das „semiprofessionelle Veranstaltungsprogramm“ des Kulturbunkers passt ihm nicht mehr ins Konzept. Ab 2013, informiert es, soll die Förderung des Bunkers entfallen, ersatzlos. Empörung bricht aus. Es kommt zu Demonstrationen, Unterschriftensammlung, Solidaritätsfest und viel kritischer Presse.

Parallel dazu stellt die Kämmerei fest, dass Köln bei einer Schließung 300 000 Euro Fördermittel zurückzahlen muss. Der Kulturbunker bleibt schließlich, jedoch aus dem Sozialbudget bezuschusst. Die Botschaft: Elitentaugliche Kunst verdient Kulturförderung, der Stadtteilkultur gewährt man Sozialhilfe.

Innere Erweiterung

Im Viertel leben Menschen, die sind aus Japan oder Ostpreußen, Griechenland oder Korea, Marokko oder Polen, Brasilien oder Schlesien, Portugal oder Ghana, Vietnam oder der Türkei oder von noch anderswo gekommen. Mehr als die Hälfte der Einwohner*innen hat eine Migrationsgeschichte.

Das spiegelt sich nicht in den Besucher*innen des Bunkers wider, stellt der Verein fest und will das ändern. 2014 bittet er deshalb Sevgi, im Vorstand mitzuarbeiten, zwei Jahre später übernimmt sie die Geschäftsführung. Die einhergehenden Veränderungen stellen auch den Verein auf die Probe. Einigen wird das Programm buchstäblich zu bunt. Sevgi arbeitet unermüdlich an Konzepten und schreibt Anträge. Mit doppeltem Erfolg. Der Kulturbunker erhält Projektfördermittel. Die Besucher*innen und Nutzer*innen kommen aus breiteren Bevölkerungsgruppen und ihre Zahl nimmt zu – bis zur Pandemie steigt sie auf das Vierfache.

Heimat und Zukunft

Als Horst Seehofer Anfang 2018 das Innenministerium in Heimatministerium umbenennt, ist das keine schöne Überraschung. Nicht nur Sevgi, auch viele Mitstreiter*innen und regelmäßige Kulturschaffende und Künstler*innen erkennen die Absicht: Seehofers Heimat meint sie nicht als Mitwirkende, sondern als Hinnehmende. Das nehmen sie aber gerade nicht hin, sondern machen es selbst viel besser: Der Kulturbunker wird zum „Mülheimer Heimatministerium – Zentrum für Heimat, Gemeinschaft und Kulturen“. Das Land NRW fördert das dreijährige Projekt. Hier verschaffen sich die Akteur*innen erst einen Überblick, welche Heimaten die Mülheimer*innen so alles mitgebracht haben. Dann erforschen sie die Gegenwart dieser Heimaten im Viertel, um im dritten Schritt zu überlegen, wie sie daraus gemeinsam Zukunft gestalten können.

Heimat jetzt

Das Kulturleben, das Miteinander im Kulturbunker, zieht immer mehr Menschen an und erzeugt Wünsche an das Programm, steigenden Bedarf an neuen Projekten. Die wollen konzipiert und finanziert werden. Projektförderung bedeutet wie überall in der Soziokultur auch für Sevgi und Vera zusätzliche unbezahlte Arbeit. Von der haben sie mehr als genug. Sie brauchen Verstärkung im Team.

Die Räume des Kulturbunkers werden zunehmend für eigene Veranstaltungen benötigt und deshalb seltener für kommerzielle Events oder private Feste vermietet. Hochzeiten zum Beispiel. Da ist es schon vorgekommen, dass eine 16-Jährige verheiratet werden soll, dass Männer oben im großen Saal und gleichzeitig die Frauen von ihnen getrennt unten im kleinen Gruppenraum feiern sollten. Mit solchen Kollisionen zwischen dem eigenen Selbstverständnis und den traditionellen Bräuchen mancher Gruppen konnte und kann im Kulturbunker nicht abstrakt umgegangen werden. Die Neugestaltung des Programms ist immer mit Konflikten verbunden. Die verschwinden nicht durch aufgeschriebene Formulierungen. Sie lassen sich nur von Angesicht zu Angesicht, im ganz konkreten Hier und Jetzt wirklich lösen.

Sevgi erweist sich für den Verein Kulturbunker e.V. als Glücksgriff. Sie besitzt aus Lebenserfahrung neben Gefühl auch Kraft in den Fingerspitzen.

 

Dieser Artikel ist in einer ausführlicheren Fassung erschienen in der SOZIOkultur Heft 3/2021 zum Thema FRAUEN

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

Ähnliche Artikel

 
24.03.2024
#DIGITALITÄT, Digitalisierung, Magazin SOZIOkultur

Wenn Maschinen die Beziehungen der Menschen verändern

Künstliche Intelligenz (KI) ist ein wichtiges Zukunftsthema. Neben vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten gibt es Vorbehalte gegenüber KI-gestützten Anwendungen. Dies gilt gerade für den Bereich der Kultur. KI kommt. Deswegen ist ein verantwortungsvoller Umgang notwendig. Der vorliegende Band skizziert Voraussetzungen, Chancen und Probleme, [...]

Mehr lesen
 
22.03.2024
#DIGITALITÄT, Magazin SOZIOkultur, Streifzüge durch die Soziokultur

Kulturzentrum Nellie Nashorn in Lörrach

Im Kulturzentrum Nellie Nashorn in Lörrach beschleunigte die Coronapandemie den Prozess der Digitalisierung. Ging es zunächst um eine zeitgemäße IT-Infrastruktur, ermöglichten die vielfältigen Förderprogramme eine Investition in die digitale Zukunftsfähigkeit: Es wurde in Licht-, Ton- und Videotechnik investiert, aber auch [...]

Mehr lesen
 
04.03.2024
#DIGITALITÄT, beispielhaft, Streifzüge durch die Soziokultur

Das Waschhaus Potsdam – eines der großen soziokulturellen Zentren

In 30 Jahren hat sich das Waschhaus Potsdam von einem besetzten Haus zu Brandenburgs größtem soziokulturellen Zentrum entwickelt. Jährlich zieht es mit seinem facettenreichen Veranstaltungsprogramm von Tanz, über zeitgenössische Kunst, Clubkultur sowie Konzert- und Literaturveranstaltungen über 120.000 Besuchende an.

Mehr lesen