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14.06.2021

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Kulturbahnhof Viktoria: Die Kunst zu wachsen – über sich selbst hinaus

Von: Dr. Edda Rydzy

Der KulturBahnhof Viktoria in Itzehoe befördert mit Medienkunst Partizipation und Teilhabe. Er ist Thabea Schultz` Arbeitsplatz.

Um Thabea haben ihre Eltern und Ärzte sehr gekämpft. Ihre Seele erträgt das Unvorhersehbare schwer, aber genau davon ist die Welt für sie übervoll. Sie besucht eine Förderschule. 2017 nimmt sie als Teenie am Projekt „Gelbe Musik & Blaue Monde“ teil. Sie trägt die Haare knallblau, gibt sich keck bis aufmüpfig. Keine Gefahr, dass jemand sie übersehen könnte. Eine Cajon-Trommel selbst bauen – das will sie sofort.

Misst man die zählbare Zeit, dann sind K|9 und der Kultur- Bahnhof Viktoria damals selbst noch sehr jung. Der Verein ist wenig mehr als drei Jahre alt, der KuBa Viktoria knapp ein halbes. Nimmt man Entwicklung zum Maßstab, dann geht es um den Unterschied zwischen erst nix da, dann: ein arbeitsfähiges Team aus sechs Ehrenamtlichen und zwei angestellten Beschäftigten in angemieteten Räumen.

Idee und Aktion

Der Anfang von allem liegt zwei Jahre vor der eigentlichen Gründung von K|9. Im Herbst 2012 besuchen Ingrid Ebinal und Thomas Engel eine öffentliche Veranstaltung des „Kulturdialogs“ der Landesregierung von Schleswig-Holstein. Dort geraten sie mit fachlich versierten Kulturpolitiker*innen und -akteur*innen ins Gespräch. Wesentlich geht es um ein Kulturkonzept, vor allem auch darum, wie ein leistungsfähiges Netzwerk entstehen kann, das die vielen kleinen Dörfer und einzelnen Gehöfte in das kulturelle Leben einschließt.

Es beginnt eine Zeit intensivster Kommunikation mit Kulturinstitutionen und Persönlichkeiten der Szene, auch mit Leuten auf der Straße. Bevor sie Projekte entwickeln und praktische Arbeiten in Angriff nehmen, wollen sie den Ist-Zustand und die Bedarfe feststellen, herausfinden, auf wen sie als potenzielle Kooperationspartner bauen können. Sie erheben Fakten, analysieren, diskutieren, formulieren einen Sachstandsbericht und die Positionen für ein Kulturkonzept des Kreises Steinburg. Im November 2014 bilden diese Positionen das Gerüst für die Vereinssatzung. K|9 wird gegründet. Nur zwei der ursprünglichen Initiator*innen sind noch dabei. Die anderen können sich das Unmaß an ehrenamtlicher Arbeit nicht leisten. Sie müssen Geld zum Leben verdienen.

Klänge der Westküste

Für K|9 sind Partizipation, Teilnahme und Teilhabe Dreh- und Angelpunkt des Engagements. Unter dem medialen Gewicht der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016 gerät fast in Vergessenheit, dass während der Monate zuvor eine große öffentliche Debatte über Inklusion stattfand. Mit zum Teil erbitterten Argumenten wehren sich manche Eltern und Lehrer*innen dagegen, dass ihr Nachwuchs ge- meinsam mit beeinträchtigten Kindern lernen soll. Sie nehmen Handicaps als bloßen Mangel, sehen nicht das andere Set an Möglichkeiten. Da will K|9 ansetzen. Seine pädagogischen Kompetenzen, Berufserfahrungen mit Radio und Musik sind gute Voraus- setzungen, um Hören als eine andere Art von Sehen erlebbar zu machen. Binnen weniger Wochen entsteht das ambitionierte Projektkonzept für „Stadtklang“. Schüler*innen eines Gymnasiums und einer Förderschule sollen sich – von Sehbeeinträchtigten unterstützt – gemeinsam Gedanken über ihre Stadt und deren typische Geräusche machen, sich entscheiden, was sie darüber wie mitteilen wollen, mit moderner Aufnahme- und Computertechnik einen Audio-City-Guide für Blinde und Soundscapes produzieren. Das Konzept überzeugt hinreichend, um wenigstens für einige Sachkosten eine kleine Fördersumme zu erhalten. K|9 arbeitet 2015 unter der Bedingung Homeoffice und ist über die ganze Vorbereitungsphase, über die Workshops und die Feldphase hinweg unsicher, ob das „Stadtklang“-Konzept aufgeht. In den Schulen, im Offenen Kanal Westküste sowie im Blinden- und Sehbehinderten Verein des Kreises Steinburg finden sich verlässliche und tatkräftige Partner. Die Gruppe der Siebtklässler stürzt sich unbefangen in das Projekt. Die Zehntklässler müssen behutsam vorbereitet werden. Sie zieren sich, überspielen so die Unsicherheiten, die sehr viele Menschen zeigen, wenn es um Beeinträchtigungen geht. Am Ende des Projekts stehen: begeisterte Schüler*innen und Kooperationspartner, eine CD, eine Radiosendung im Offenen Kanal, eine Abschluss-Veranstaltung mit mehr als 400 Teilnehmer*innen und – eine Schulleiterin, die genau dieses Projekt ins 40 Kilometer entfernte Meldorf holen möchte. Die dritte Projektetappe findet dann 40 weitere Kilometer nördlich in Friedrichstadt und Tönning statt.

Licht und Schatten

Den Sommer 2016 zeichnen Kontraste. Die EU, der Fonds Soziokultur und das Land Schleswig-Holstein haben Fördermittel bewilligt. Das K|9-Team kann den euphorischen Schwung des prächtig gelungenen ersten Projekts direkt für die Grundsanierung der frisch gemieteten Räume im Bahnhof nutzen. Hier entsteht, sozusagen gleich im Rahmen der Ersteinrichtung, das Studio für das Radio „StörFrequenz“. Der Offene Kanal Westküste überlässt dem Verein die Ausstattung dafür. Mehrere Schulen bauen für ihren Wahlpflichtunterricht in den achten Klassen auf die medienpädagogische Kompetenz von K|9.

Als zunehmendes Grundgeräusch jedoch schallt über den Atlantik das Getöse des vorwahlkämpfenden Trump. Rechtsextreme im eigenen Land spielen mit steigendem Erfolg die Nöte von Verunsicherten und Benachteiligten gegen Flüchtlinge aus. Hatespeeches im Internet weiten sich bedrohlich aus. Forsa misst den rechten Rand bundesweit mit 30, in Schleswig-Holstein mit neun Prozent.

K|9 hingegen ruft vollständig ehrenamtlich im Kulturbahnhof Viktoria „Tix4Nix“ ins Leben, den Stützpunkt der KulturLoge Westküste. Nach dem Vorbild der Tafel werden hier nicht verkaufte oder gespendete Tickets für Kultur- und Sportveranstaltungen finanziell schlecht gestellten Menschen zur Verfügung gestellt. Parallel baut K|9 eine ehrenamtliche Redaktion für eine Magazinsendung im Radio „StörFrequenz“ auf. Hier stehen die Ereignisse vor Ort im Mittelpunkt.

Die „großen“ Nachrichten die- ser Monate berichten über eine lange Mauer, die der eine gern hochziehen will, und über Grenzen, die nach der Meinung anderer dichtgemacht werden sollen. K|9 zielt auf das Gegenteil – an der Wurzel. Mit „Gelbe Musik & Blaue Monde“ wird ein Projekt konzipiert, das Menschen mit und ohne Beeinträchtigung helfen soll, ihre inneren Grenzen auszudehnen.

Grenzen dehnen

Die Eltern und Liebsten von Menschen mit Handicap neigen oft reflexartig dazu, sie mit aller Kraft zu beschützen, ihnen Schwierigkeiten und Herausforderungen fern zu halten. Das führt dann dazu, dass die so Umsorgten sich nur in sehr engen Bereichen wirklich sicher fühlen und sich selbst wenig zutrauen. „Aus dieser Komfortzone müssen sie raus, in die Welt“, sagt Ingrid, „Sie gehören ja zur Gesellschaft“. K|9 lädt also Schüler*innen aus einer Gemeinschaftsschule, zwei Gymnasien und einer Waldorfschule ein, gemeinsam mit Förderschüler*innen Instrumente zu bauen, auf ihnen und anderen mitgebrachten zu spielen, ein Hörspiel selbst zu erfinden und eine Radiosendung zu machen. Inklusion und Integration werden hier offensiv miteinander verbunden.

In einer Gegend, in der „Moin.“ – „Moin.“ als langes Gespräch gilt, lassen sich die Menschen nicht so leicht von Großsprechern und Schreihälsen um den Finger wickeln. Das anspruchsvolle Projekt trifft dennoch auf ein unge- wisses Klima.

K|9 fragt sich, ob sich überhaupt die 20 nötigen Teilnehmer*innen einfinden. Gemeinsam mit Thabea kommen am 20. Februar 2017 über 60 Mädchen und Jungen. Das Team fällt vor freudiger Überraschung fast auf den Rücken. Es denkt nicht im Traum daran, auch nur eine*n wegzuschicken. Netzwerkpartner stellen zusätzliche Räume zur Verfügung. Es folgen sieben Monate äußerster Anstrengung. Auch „Gelbe Musik & Blaue Monde“ wird ein Riesenerfolg. Die Schüler*innen wachsen über sich hinaus. „Man schafft etwas, wovon man gar nicht wusste, dass man`s kann“, sagt ein Mädchen. Viele Ängste – vor anderen Menschen, der Höhe, der Enge, ungewohnten Aufgaben – werden überwunden. Auf dem Rückweg von einer Exkursion schwärmt ein Junge: „Ich hab mich auf einmal gefühlt, wie in `ner Gang, richtig stark.“

Die Schüler*innen wachsen über sich hinaus.

Weg ins Team

Thabea kann nicht bis zum Schluss bei „GMBM“ mitmachen. Probleme mit der Gesundheit hindern sie. Trotz allem schließt sie die Förderschule ab. Sie freut sich, dass sie anschließend zu einem Praktikum wieder in den KuBa Viktoria darf. Man merkt ihr die schweren Zeiten an. Sie ist inzwischen reifer geworden. Statt des blauen Schopfes trägt sie roten Raspel. Die Spontanität von vor drei Jahren ist weg. Soll sie einem fremden Gast die Hand geben oder gar eine Frage beantworten, so braucht das lange, geduldige Vorbereitung. Mit Computern jedoch kann Thabea besser als gut umgehen. Manchmal laufen auf ihrem Schreibtisch der feste PC und das Smartphone, auf ihrem Schoß zusätzlich der Laptop. Sie bedient virtuos alle drei gleichzeitig. Zum Glück. Ob es die KulturLoge ist mit dem verzwickten Fahrdienst oder das Radio „Stör-Frequenz“ mit Redaktionsarbeit und Sendungen oder die Trickfilmprojekte „Vivamente“ oder die Schreibwerkstatt oder die „StadtDebatte“ und „StadtLabore“ oder der Medienunterricht oder oder oder – alle Projekte und Aktivitäten im KuBa Viktoria bedeuten Unmengen an Daten und Informationen, die samt und sonders ordentlich erfasst, bearbeitet und verwaltet sein wollen. Thabea wird also dringend gebraucht. Ab und zu muss man`s ihr sagen und das „dringend“ dabei unterstreichen. Dass Thabea die Computer im Griff hat, gilt nämlich auch umgekehrt, sobald es um Spiele geht. Sie reißt sich aber zusammen, erledigt ihre Arbeiten peinlich genau und – wird eingestellt.

Chaos und Ordnung

Für das Homeoffice muss Arbeitssoftware neben die geliebten Spiele auf Thabeas Laptop. Damit hadert sie zunächst gründlich. Doch sie arbeitet schließlich umso angestrengter, um zu den verabredeten Terminen akkurat erledigte Arbeit abzuliefern. Im Februar 2021, also ziemlich genau vier Jahre nach ihrer ersten Bekanntschaft mit dem KuBa Viktoria, stürzt eine Flut von 1000 Bildern auf sie ein. 400 Menschen aus vielen Orten der Westküste und darüber hinaus haben sie gemalt, abfotografiert und hergeschickt, damit sie im Rahmen des Projekts „Lumen + Colours“ abends auf der Bahnhofsfassade erstrahlen. Thabea wird das bunte, lebendige Chaos der Bildwelten in Dateiordnern bändigen. Darauf kann sich das Team verlassen.

Ingrid Ebinal führt die Geschäfte des Kulturbahnhofs Viktoria. Thomas Engel ist 1. Vorstand. K|9 wird im Rahmen des Bundesprogramms Ländliche Entwicklung (BULE) gefördert durch LandKULTUR.

 

Dieser Artikel ist erschienen in der SOZIOkultur 1/2021 Land

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

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