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24.10.2019

#BEHEIMATEN, Magazin SOZIOkultur

Heimat Europa

Von: Dr. Beate Kegler

Grenzüberschreitend entsteht in der Soziokultur und durch sie an vielen unterschiedlichen Orten so etwas wie Heimat. Die Vielfalt der Soziokultur befähigt Menschen, sich zu beheimaten, Heimat zu entdecken und immer wieder neu zu gestalten.

Das Wort „Heimat“ in seinem klassischen deutschen Begriffsfeld ist in anderen Sprachen ohne direkte Entsprechung. Deshalb wird etwa im Amerikanischen zur adäquaten Bezeichnung der deutsche Begriff verwendet (german heimat). Englisch homeland bzw. native land, französisch lieu d´origine bzw. pays natal sowie tschechisch domov, polnisch mała ojczyzna, russisch rodina, rumänisch ţara natala und ungarisch szülöföld besitzen große inhaltliche Nähe, ohne das gesamte Bedeutungsspektrum abzudecken.(1)

Ganz so leicht scheint es nicht zu sein mit dem internationalen oder europäischen Verständnis dessen, was wir als Heimat bezeichnen. Und auch im deutschen Sprachgebrauch lässt sich der Begriff nicht eindeutig fassen. Heimat ist mehr als ein Zuhause. Heimat kann etwas zu tun haben mit Wohlfühlen und Kindheit, mit „wir“ und mit „miteinander“. Vielleicht nicht nur mit den Menschen, denen wir uns familiär zugehörig fühlen, sondern auch mit denjenigen, die uns ans Herz wachsen. Wenn wir an Heimat denken, gehören zu diesem nebulösen Gebilde mit den unklaren Rändern vielleicht aber auch die Menschen oder Gegebenheiten einer Gemeinschaft, die wir uns anders gewünscht hätten. Der Bärbeiß im Viertel, die Klatschbase in der Nachbarschaft, die Enge des Dorfes, die Weite der Entfernung zum anderswo, die Geräusche der naheliegenden Autobahn, die Gerüche im Schulgebäude oder der Geschmack der Pommes an der Imbissbude ums Eck. Heimat kann zu tun haben mit Orten, mit Dörfern und Stadtvierteln, mit Traditionen, aber auch mit Immergleichem, mit Erstarrtem, Verstaubtem. Der Begriff – auch das soll nicht unerwähnt bleiben – wurde als Propagandabegriff des Faschismus gern und häufig verwendet und gehört auch heute wieder zum Vokabular derer, die mit unerträglicher Heimattümelei  nationalistischen und fremdenfeindlichen Haltungen Ausdruck verleihen.

In aller Vielfalt der Begriffsdefinition bleiben zwei Konstanten. Erstens: Das Wort Heimat bietet sich zur emotionalen Aufladung an. Und zweitens: Um die Deutungshoheit wird intensiv gerungen – auch in der Soziokultur. „Um einen aktiv zu gestaltenden Prozess“, gehe es hier und darum, dass sich Menschen miteinander beheimaten, sich miteinander und kritisch mit ihrer Umgebung auseinandersetzen. „Lebensmittelpunkte werden geteilt, wo Beheimatung erfolgt.“ So und ähnlich lautete beispielsweise das Ergebnis einer Begriffsdebatte innerhalb der Redaktionssitzung der Zeitschrift SOZIOkultur, die der Entstehung dieser Ausgabe vorausging. Und am Ende steht immer wieder die Frage, ob es wirklich richtig sei, diesen emotionalisierten Begriff zu verwenden.

Heimat in der Soziokultur

Worum geht es der Soziokultur in ihrem Kern? Ist eine der selbstgewählten zentralen Zielsetzungen nicht tatsächlich so etwas wie aktive Beheimatung? Heimat schaffen als Prozess, als aktiven Gestaltungsprozess des Miteinanders in Vielfalt und Transformation? Ging es nicht seit den Ursprüngen der Soziokultur genau darum? Die Hausbesetzungen in der „Gründerzeit“ richteten sich doch konkret auch gegen die „Unwirtlichkeit der Städte“ (2), der gemeinsame politische Widerstand ließ Communities mit ihrer ganz eigenen Kultur entstehen, die bis heute Bestand haben, das
Jetzt prägen und ihre Narrative aus dieser Vergangenheit ziehen. Die Soziokultur schaffte Orte, an denen die Vielfalt sich auch künstlerisch-experimentell beheimaten konnte, in denen Gruppierungen von Gleichgesinnten räumliche Heimat fanden. Und immer wieder ging und geht es darum, unterschiedliche Menschen zu gemeinsamer Aktion zusammenzuführen, um das Miteinander in Vielfalt zu erproben und in die jeweilige Regionalgesellschaft hineinzuwirken. All das sind Facetten der Soziokultur. All das sind Facetten zeitgemäßer Wege zur Beheimatung.

In Europa

Beheimatung durch Soziokultur ist selbstredend kein rein deutsches Phänomen. Selbst dort, wo das Wort „Heimat“ kein sprachliches Pendant aufweist, lassen sich diverse Wege zur Beheimatung durch Soziokultur identifizieren. In Lettland schaffen die mehr als 550 Kulturhäuser Orte kultureller Bildung und Kommunikation bis in die kleinsten Dörfer hinein. Die Förderung der Bildung und die Entwicklung und Tradierung des zeitgemäßen kulturellen Erbes sind hier zu Staatszielen geworden, die die Identifikation mit einem noch jungen Staat ermöglichen sollen, der mit extremer Abwanderung junger Menschen zu kämpfen hat. (3) Im kritischen Gegenüber dazu liefert eine wachsende freie Szene zwischen experimenteller Kunst und Soziokultur neue Impulse in der Auseinandersetzung um alte und neue Narrative. Wer wollen wir gewesen sein? Wer werden wir sein? Wer sind „wir“? Diese Fragen scheinen geradezu kennzeichnend für das Spannungsfeld zu sein, in dem lettische Akteur*innen nach Wegen im Umgang mit dem Heimatbegriff suchen.

In Dänemark vereint der Verband der Kulturhäuser, Kulturhusene I Danmark (KhiD), die rund 100 Zentren – vom dörflichen Gemeinschaftshaus unter ehrenamtlicher Leitung bis hin zum großen städtischen Kulturzentrum. „The cultural centres are seen as the necessary physical frame around cultural processes primarily based on local initiative. […] Since cultural centres in Denmark by nature are strongly locally rooted, we find it equally important to create lasting and vivid connections to cultural centres within Europe […] [It] is an important tool for the development and support of the activities in each centre as well as for the development of true respect and understanding of the qualities of cultural diversity.” (4) Bulgarien weist ein ähnliches System der kleinen und kleinsten Kulturzentren, der Chitalishta, auf. Die von zivilgesellschaftlichen Gruppen geführten Häuser gehören zur Tradition bulgarischer Breitenkultur und sind trotz
eher dürftiger staatlicher Unterstützung soziokulturelle Begegnungsorte und Stätten kultureller Bildung geblieben. Immerhin 3.100 solcher Einrichtungen sind aktuell im nationalen Verband Mitglied. (5) Auch hier geht es in den Auseinandersetzungen, in den lokalen und Netzwerkprojekten immer auch um die Frage nach der Gestaltung von Gemeinschaft sowie um die Frage nach dem, was wie zum Beheimaten gehören kann. Beispiele aus weiteren europäischen Ländern und Regionen könnten noch in großer Zahl genannt werden. Gemeinsam ist allen letztlich der Ursprung ihrer Suchbewegungen nach Wegen, diese Zielsetzungen zu erreichen.

Entwicklung

Die Gestaltung des Miteinanders als Prozess der Beheimatung ist in der Tat wesentlich älter als die Soziokultur selbst. Vielleicht fängt die Gestaltung des Miteinanders bereits beim Nestbau in der Tierwelt an. Sie wird in den Sozialgemeinschaften der Menschen zu vielfältigen Formen des Zusammenlebens, gestaltet nach individuellen und gruppenspezifischen Bedürfnissen. Wer mit wem und wie überhaupt und in Zukunft? – das gilt es immer wieder neu auszuhandeln und spielerisch zu erproben, zu verstetigen, aber auch jeweils zeitgemäß zu verändern – mit allen, die da sind, und mit allen, die dazukommen. Auch das ist nicht neu: Europaweit, weltweit und seit Jahrhunderten ist es die Breitenkultur kleiner und dörflicher Sozialgemeinschaften, die – solange sie generationsübergreifend im gemeinsamen Tun überliefert wurde – immer wieder neu Formate schuf, in denen das Zusammenleben und -wirken einer Dorfgemeinschaft eingeübt wurde. Der Rhythmus gemeinsamen Arbeitens und Lebens musste aufeinander abgestimmt werden, die Zielrichtung übereinstimmen – in aller Vielfalt der Menschen mit ihren unterschiedlichen Talenten. Sä- und Erntelieder sowie jahreszeitliche Feste gaben diesen Rhythmus vor. Generationsübergreifendes Lernen und die Einbeziehung aller in den ganzjährigen (Über-) Lebensprozess der  Gemeinschaft war selbstverständlich. Dies wandelte sich mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft und durch äußere Impulse. Mit der industriellen Revolution änderten sich diese Gefüge. Dorfbewohner*innen verließen die Dörfer und versuchten neue Heimaten in Städten zu finden, Städter*innen entdeckten den Freizeitwert des Lebens im ländlichen Raum und zogen in die Speckgürtel der Städte. Gesellschaften veränderten sich rasant. In dieser Zeit entstand eine Welle von Chroniken und Festschreibungen dessen, was die Heimat suchenden Städter*innen am
Land bewahren wollten. Traditionen und Kultur wurden festgeschrieben und fortan ihrer lebendigen Veränderlichkeit beraubt. Die Tracht musste bleiben, wie sie historisch korrekt erschien, die Blaskapellen und Spielmannszüge begannen nach Noten das nun festgeschriebene Liedgut zu spielen und unverändert zu bewahren, die Lieder und Feste waren letztlich zum „Vintage-Style“
einer Gemeinschaft erhoben, die im Theaterstück „Heimat“ ihre Rollen spielte. Mit dem aufkommenden Tourismus sicherten zwar die „Heimatinszenierungen“ bis heute marktgängige  Alleinstellungsmerkmale, aber das, was letztlich zur Beheimatung führt, hat nur wenig gemein mit dem, was unter dem Label „Heimat“ festgeschrieben wurde.

Veränderung gestalten

Solange das „Wir“ einer Gemeinschaft sich nicht durch ein veränderliches Erproben und spielerisches Gestalten derjenigen, die die Gesellschaft bilden, immer wieder aufs Neue verändern darf und kann, ist Heimat nicht lebendig. Nicht in Buxtehude und nicht in Hintertupfingen, nicht in Bulgarien, Lettland oder Dänemark. Trotz aller Erfolge: Die große Herausforderung bleibt es, ein
Miteinander und Füreinander zu ermöglichen, zu initiieren und zu fördern, in dem sich das Wir stets aufs Neue mit allen und für alle gestalten lässt. Im Dorf und im Stadtviertel. In der Region und auch grenzüberschreitend. Wenn Soziokultur ihren selbst gesetzten Auftrag ernst nimmt, geschieht genau das: Soziokultur lässt aus Vielfalt Heimat entstehen. Immer wieder. Mit allen und für alle. Vor Ort und in Europa.


1 Seifert, Manfred: „Heimat“ (2016): Heimat. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2016. https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p42287 (aufgerufen am 15.08.2019).

2 Vgl. Mitscherlich, Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main 1965.

3 Pfeifere, Dita (2017): „Cultural Policy for Rural Development. A Latvian Model”. In: Schneider, Wolfgang/Kegler, Beate/Koß, Daniela (Hg.): Vital Village. Entwicklung ländlicher Räume als kulturpolitische Herausforderungen. Bielefeld 2017, S. 163–167.

4 Søeborg Ohlsen, Søren (o. J.): Selbstdarstellung auf der Website des European Network of Cultural Centres, https://encc.eu/about/governance/soren-soeborg-ohlsen (aufgerufen am 19.08.2019).

5 Plovdiv 2019: Chitalishta Project. https://plovdiv2019.eu/en/platform/revive/189-culture-meets-people/417-chitalishta

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