Bei der Jubiläumsfeier in der börse Wuppertal anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Soziokultur trafen sich Vertreter*innen aus Politik, einer Denkfabrik und der Soziokultur, um über die Herausforderungen, die gesellschaftliche Rolle und die politischen Implikationen der Soziokultur zu diskutieren. Das Panel, moderiert von Journalistin Vivian Perkovic, bot inspirierende Einblicke und eine klare Botschaft: Soziokulturelle Orte sind unverzichtbar für demokratische Teilhabe, Dialog und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Diskussion begann mit persönlichen Geburtstagswünschen an die Soziokultur. Helge Lindh, medien- und kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, machte in seiner Eröffnung klar, wie wichtig ihm die Soziokultur für die Demokratie ist. "Obacht vor Soziokultur – sei gewarnt, Demokratie droht", scherzte Lindh und bezog sich damit auf die politisierende Kraft der Soziokultur. Auch Ina Brandes (CDU), Ministerin für Kultur und Wissenschaft Nordrhein-Westfalens, würdigte die Soziokultur: Sie zeigte sich beeindruckt von der "Resilienz und Widerstandskraft" der soziokulturellen Akteur*innen, die auch in schwierigen Zeiten stets humorvoll und engagiert blieben. Paulina Fröhlich, stellvertretende Geschäftsführerin des Think Tanks "Das Progressive Zentrum" ergänzte, dass Kunst "Schmuggelware" sei, die komplexe Themen am potenziellen Desinteresse des Publikums vorbei direkt in "Hirn und Herz" bringt. Heike Herold, Geschäftsführerin von Soziokultur NRW und Vorstandsmitglied im Bundesverband Soziokultur, empfahl, mit "Dehnübungen" flexibel zu bleiben, aber nicht in alle Richtungen, um Risiken und "Unfälle" zu vermeiden.
Ein Angebot an die Gesellschaft: Räume für Vielfalt und Teilhabe
Lukas Hegemann, Gastgeber und Geschäftsführer der börse Wuppertal, beschrieb, wie das Zentrum aktiv Räume für Kreativität, Begegnung und Experiment bietet: „Wir sagen: Hier sind freie Räume.“ Er betonte, dass solche Räume gerade für die Teilhabe und Vielfalt in der Gesellschaft entscheidend seien, weil sie Menschen ermutigen, Projekte und Ideen zu verwirklichen, ohne Eintrittsbarrieren. Hegemann illustrierte dies am Beispiel des "Pop-up-Cafés", das die börse im Sommer in einem zuvor unbelebten Park organisiert: Dem Projekt gelang es, Nachbar*innen dazu zu bewegen, sich monatlich zum gemeinsamen Kaffeetrinken zu treffen und so die soziokulturelle Teilhabe zu fördern. Heike Herold betonte, dass Soziokultur durch zahlreiche Projekte zur Teilhabe und Vielfalt beiträgt, indem sie mit niedrigschwelligen Angeboten direkt in Stadtteile geht. Ina Brandes ergänzte, dass Soziokultur ein einzigartiges, vielfältiges und oft einfallsreiches Angebot schafft, das in etablierten Kultureinrichtungen selten zu finden ist.
"Was wollt ihr eigentlich? Ihr bestimmt das Programm selbst! Ich finde das wirklich beeindruckend und toll. Die Politik könnte sich davon eine Menge abschauen, wie die Soziokultur das macht." Paulina Fröhlich, Progressives Zentrum
Soziokultur als Schule guter Politik
Helge Lindh hob hervor, dass Soziokultur als "Schule guter Politik" demokratische Kompetenzen wie Dialogfähigkeit und das Aushalten von Konflikten fördere. Er erinnerte an den deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies, der zwischen "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" unterscheidet, und sagte, dass soziokulturelle Zentren beides miteinander verbinden. "Soziokultur ist gesellschaftlich therapeutisch und heilsam," betonte Lindh und würdigte die Bedeutung der Soziokultur als eine Form "lebensweltlicher Verankerung von Kunst und Demokratie".
Politische Neutralität und Offenheit
Das Thema politische Neutralität spielte ebenfalls eine Rolle in der Diskussion. Hegemann stellte klar, dass die Soziokultur keine Parteipolitik betreibe, sondern als "Gesellschaftskultur" agiere. "Mit Fördergeldern machen wir keine Parteipolitik, sondern bieten ein breites Kulturprogramm an", so Hegemann. Auf die Frage, ob soziokulturelle Räume tatsächlich offen für alle Meinungen seien, gab er zu, dass es Grenzen gebe, etwa gegenüber radikal rechten Gruppen, die die Arbeit der Soziokultur als "subversiv" einstufen würden. Heike Herold betonte, dass die Soziokultur von jeher Kultur mit gesellschaftlichem Bezug organisiere und natürlich auch politisch sei.
"Wir machen mit Gesellschaft für Gesellschaft Kultur […] dass da dann Leute auf der Bühne stehen, die eine Meinung haben, das wollen wir, dass diese Meinung breit sein soll, das wollen wir auch.“ Lukas Hegemann, die börse
Die Bedeutung öffentlicher Räume und der demokratischen Kultur
Die Moderatorin lenkte die Diskussion auch auf die schwindenden öffentlichen Räume für politische Meinungsbildung, die oft von sozialen Medienunternehmen kontrolliert werden. "In der Realität vor Ort begegnen wir uns noch, wie wir das im Netz oft nicht mehr tun", bemerkte Perkovic. Lindh unterstützte diese Perspektive und nannte soziokulturelle Räume "existenziell für jede Demokratie", da sie eine Form von Öffentlichkeit schaffen, die alternative politische Programme fördern könnten.
Finanzierung und Förderpolitik
Die Finanzierung und die strukturellen Hürden für soziokulturelle Arbeit waren weitere Schwerpunkte der Diskussion. Paulina Fröhlich plädierte leidenschaftlich dafür, Demokratiepolitik als eigenes Politikfeld anzuerkennen und mit Ressourcen auszustatten, um die Demokratie und die soziokulturelle Arbeit gezielt zu stärken. Die fehlende Systematik in der Förderpolitik kritisierte Lindh als großen Mangel. Er betonte, dass Fördergelder oft nicht nach klaren Prioritäten vergeben würden und warnte davor, soziokulturelle Projekte in feste Richtlinien einzuhegen, die ihre kreative Freiheit beschneiden.
"Es geht darum, möglichst geringen Schaden anzurichten. Das ist im Moment der Job." Kulturministerin NRW Ina Brandes
„Keine vernünftige Begründung für Kürzungen“
Helge Lindh machte deutlich, dass er die aktuellen Kürzungen für die Soziokultur im Bund entschieden ablehne. "Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund für entsprechende Kürzungen […] Sie sind grundsätzlich falsch und damit nicht zu legitimieren." Heike Herold, Geschäftsführerin von Soziokultur NRW, erläuterte die Auswirkungen solcher Einsparungen: "Wir haben immer weniger Zeit für wirklich inhaltliche Arbeit, sondern müssen Daten und Fakten sammeln, um unsere Existenz zu rechtfertigen." Die ständige Unsicherheit erschwerte den soziokulturellen Zentren ihre wertvolle Arbeit. Zudem belasten Inflation und steigende Betriebskosten die Freie Szene.
"Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund für entsprechende Kürzungen […] Sie sind grundsätzlich falsch und damit nicht zu legitimieren." Helge Lindh, MdB
Ein Ruf nach nachhaltiger Förderung
Lukas Hegemann schilderte die Herausforderungen, die durch die Begrenzung der Mittel entstehen: "Bestimmte Arbeiten müssen wir sein lassen, und wir müssen Nutzern sagen: Leider kostet der Raum jetzt mehr." Solche Maßnahmen gefährden die Offenheit, die essenziell für die soziokulturelle Arbeit ist. Die Diskussionsrunde endete mit einem klaren Appell an die Politik, die strukturellen Förderbedingungen für die Soziokultur zu verbessern und langfristige Sicherheit zu schaffen.
"Der Bundesverband hat rund 100 Millionen Euro weitergeleitet – eine unglaubliche Leistung während der Pandemie, die im Grunde auch eine Unterstützung für die Regierungen war. Denn durch unsere Verwaltung haben wir ihnen viel Arbeit abgenommen. Der Bundesverband hat dafür in kürzester Zeit 60 Mitarbeiter*innen eingestellt, die er nun leider wieder entlassen musste.“ Heike Herold, Vorständin/Soziokultur NRW
Soziokultur als Fundament für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt
Die Podiumsdiskussion war ein starkes Plädoyer für die gesellschaftliche Bedeutung und politische Notwendigkeit der Soziokultur. Trotz der Herausforderungen bleibt die Überzeugung bestehen, dass soziokulturelle Zentren auch in Zukunft Räume der Vielfalt, der Begegnung und der demokratischen Kultur bieten können – wenn ihre finanzielle Sicherheit gewährleistet wird.