Ein Netzwerk für mehr Nachhaltigkeit – „Oje, noch ein Netzwerk!“ oder „Endlich“? Wie kann ein Netzwerk nachhaltiges Organisationshandeln in der Soziokultur fördern? Was muss es leisten und welche Elemente sind dafür zentral? Ausgehend von den wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche Netzwerkarbeit fasst dieser Beitrag zusammen, was das aktuell wichtigste Nachhaltigkeitsnetzwerk für Kultur und Medien bereits leistet und was darüber hinaus das gemeinsame Ziel – mehr Nachhaltigkeit im Kulturbetrieb – weiter fördern könnte.

Mit einem Netzwerk können Akteur*innen eigene Ziele leichter erreichen

Ein Netzwerk ist ein Bündnis von Akteur*innen, die sich zusammentun, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen oder ein Problem zu lösen. Dafür bringen sie unterschiedliche Fähigkeiten und Ressourcen in das Netzwerk ein. Attraktiv und erfolgreich ist ein Netzwerk dann, wenn die Beteiligten mit Hilfe des Netzwerkes ein für sie wichtiges Ziel überhaupt oder mit einem geringeren Aufwand erreichen, als wenn sie es allein umsetzen würden. Die Frage nach dem gemeinsamen Ziel ist deshalb zentral: Ein Netzwerk braucht explizite Ziele, die für alle Mitglieder wichtig sind.¹

Die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) nennt vier Faktoren für eine erfolgreiche Netzwerkarbeit: Zielorientierung, Verbindlichkeit, Kommunikation und Konfliktkompetenz. Netzwerken basiert auf transparenten Strukturen und verbindlichen gemeinsamen Regeln der Zusammenarbeit und Steuerung. Erfolgreiche Netzwerkarbeit unterliegt damit einem gemeinsamen Prozess, der durch transparente Planung und Steuerung und eine gemeinsame Weiterentwicklung gekennzeichnet ist.² Anders ausgedrückt zeigt sich die Qualität eines Netzwerkes darin, dass sich die unterschiedlichen Akteur*innen aktiv einbringen und es gemeinsam gestalten.

Das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien

Das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien (ANKM) bezeichnet sich selbst als „eine spartenübergreifende Anlaufstelle für das Thema Betriebsökologie im Bereich Kultur und Medien“. Das gemeinsame Ziel ist eine „klimaneutrale Kultur“. Um dies zu erreichen, vernetzt das von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderte Netzwerk Pionier*innen mit interessierten Akteur*innen, macht Erfahrungen im Kontext der Betriebsökologie zugänglich und initiiert Projekte und Kooperationen. Das Netzwerk versteht sich als „neutraler intermediärer Akteur zwischen Politik, Verwaltung und handelnden Unternehmungen“ und möchte für Kultur und Medien zur zentralen Anlaufstelle für betriebsökologische Fragen, Beratung und Koordination werden.³

Im Fokus des Netzwerkes steht die Aktion. Dies wurde bei der Auftaktveranstaltung im September 2020 deutlich. Es ging von Anfang an darum, Dinge zusammen zu tun, damit Kultur perspektivisch die Pariser Klimaziele, allen voran das 1,5-Grad-Ziel, einhält und sich betriebsökologisch entsprechend aufstellt. Man wolle eine „Brücke zwischen Wissenschaft und Handeln bauen“, wie Jacob Bilabel, der Leiter des Netzwerkes, es damals ausdrückte. Dennoch ging es nicht nur um betriebsökologische Aspekte in den Organisationen, sondern auch um die Kommunikation nachhaltiger Aktivitäten. Kunst und Kultur als „Transformationsarena“, das war ein zentraler Begriff.

Von Anfang an waren neben der Kulturpolitischen Gesellschaft und dem Deutschen Kulturrat die IHK Köln, die Energieagentur.NRW, das Wuppertal Institut und Julie’s Bicycle Partner des Netzwerkes. 2022 gehören 46 Akteure dem Netzwerk an. Auch der Bundesverband Soziokultur möchte sich in Zukunft aktiv in das Netzwerk einbringen.

Was das Netzwerk leistet:

Das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit wird von einem vierköpfigen Team betreut, das die Plattform betreibt, Veranstaltungen organisiert und einzelne Projekte initiiert.

Ein Netzwerk für die Soziokultur

Das ANKM ist eine wichtige Anlaufstelle, wenn es um Nachhaltigkeitsmanagement in Kultur und Medien geht, und ist in seiner Funktion bereits jetzt nicht wegzudenken. Es ist zu einem Zeitpunkt entstanden, als es für viele Kultureinrichtungen schwierig war, den eigenen Bedarf in Bezug auf Nachhaltigkeit zu formulieren, fehlten doch sowohl Erfahrungen als auch ein Anforderungsrahmen seitens der Politik. Nun formiert sich der Rahmen und das Ziel einer klimaneutralen Kultur weist den Weg.

Der Bundesverband Soziokultur möchte und wird sich aktiv in das Netzwerk einbringen und ist dazu im Austausch mit den Mitarbeiter*innen des Netzwerks. Ansatzpunkte für eine Kooperation gibt es einige: Die Soziokultur kann mit ihrer heterogenen Mitgliedschaft und dem breiten Spektrum an Angebotsformaten neue Perspektiven sowohl in Bezug auf betriebsökologische Ansätze als auch auf die Vermittlung von Nachhaltigkeit beisteuern. Der Bundesverband Soziokultur hat mit dem Nachhaltigkeitskodex für die Soziokultur bereits 2018 eine wichtige Basis geschaffen. Außerdem kann er seine Erfahrungen mit der strukturellen Verankerung von Nachhaltigkeit in einem Verband einbringen. Er kennt die Bedarfe seiner Mitglieder in Bezug auf die Einführung eines Nachhaltigkeitsmanagements. Und er arbeitet derzeit an einem Beratungs- und Qualifizierungskonzept für kulturelle Einrichtungen.

Doch was heißt „sich einbringen“ konkret? Was könnte der Bundesverband tun und was erwartet er sich von seinem Engagement? Aus Perspektive des Bundesverbands Soziokultur sind folgende Themen attraktiv für eine gemeinsame Bearbeitung:

Sichtbarkeit, Aktion und ein gemeinsames Bekenntnis zu mehr Klimaschutz sind wichtig. Doch klar ist auch: Für das Erreichen des übergeordneten Ziels – eine klimaneutrale Kultur – reicht das nicht aus. Ein Netzwerk ermöglicht es einzelnen Akteure*innen, Aufgaben zu stemmen, die sie aus eigener Kraft nur schwer bewältigt hätten. Das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien könnte und sollte also Ausgangspunkt für eine gemeinsame Weiterentwicklung sein. Hierfür hat es eine großartige Basis geschaffen. Nun gilt es, gemeinsam das in ihm liegende Potenzial weiter auszubauen.

 

1 Büttner und Voigt (2015)

2 Das sind die vier Faktoren erfolgreicher Netzwerke – INQA – Initiative Neue Qualität der Arbeit | www.inqa.de

3 www.aktionsnetzwerk­nachhaltigkeit.de

Literatur:

Theoretische Grundlagen für eine erfolgreiche Netzwerkarbeit. Büttner, Mareike; Voigt, Jana (2015). Download: www.stiftung­toleranz. de/wp­content/uploads/2016/08/Flick­Stiftung­Netzwerke­end.pdf

 

Dieser Beitrag ist erschienen im Magazin SOZIOkultur zum Thema ENERGIE.

Ein Gespräch mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth über die Bedeutung von Soziokultur für den nachhaltigen Wandel, „Green Culture Desk“ sowie den „KulturPass“.

Die Fragen stellte Jennifer Tharr, Referentin für Kulturpolitik beim Bundesverband Soziokultur e.V.

Auf der Veranstaltung „Green Culture. Nachhal­tigkeit in Krisenzeiten“ Mitte November letzten Jahres in Berlin betonten Sie, dass ökologische Transformation eine Gemeinschaftsaufgabe der gesamten Gesellschaft und somit auch des ge­samten Kulturbetriebs sei. Im letzten Jahr hat der Bundesverband Soziokultur den Bericht „Das braucht’s! – Nachhaltige Entwicklung in der Soziokultur“ veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass die nachhaltige Ausrichtung in soziokulturellen Einrichtungen selbst bei ge­ringen Ressourcen häufig mitgedacht wird und vieles Routine geworden ist. Worin liegt Ihrer Ansicht nach das besondere Potential der So­ziokultur, um den nachhaltigen Wandel weiter voranzubringen?

Die Klimakrise ist die Überlebensfrage unserer Zeit, der wir nur gemeinsam entgegentreten können. Die Kultur kann viel dazu beitragen, dass uns das gelingt. Denn sie durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche und hat eine riesige Breitenwirkung. Auch als Vermittlerin von Werten kommt der Kultur beim gesellschaftlichen Wandel eine sehr wichtige Rolle zu. Und dies gilt ganz besonders auch für die Soziokultur. Denn die Akteurinnen und Akteure der Soziokultur prägen und gestalten gesellschaftspolitische Debatten mit den Mitteln der Künste. Für die vielfältigen Aktivitäten des Bundesverbands Soziokultur auf diesem Gebiet bedanke ich mich ganz herzlich bei Ihnen.

Nur gemeinsam, im engen Schulterschluss von Bund, Land, Kommunen und Zivilgesellschaft werden wir die großen Probleme unserer Zeit lösen. Die Bedeutung der Kultur und insbesondere der Soziokultur lässt sich dabei gar nicht überschätzen.

Während die Soziokultur bei Konsumentschei­dungen und im vermittelnden Bereich der Bil­dung für nachhaltige Entwicklung tut, was sie kann, fehlt es ihr an Mitteln, um den Investi­tionsstau für die dringend notwendigen ener­getischen Sanierungen in den oftmals nicht für den Kulturbetrieb vorgesehenen Gebäuden vor­ anzutreiben. Der eigentlich nachhaltige Gedan­ke der Umnutzung von Industriebrachen und der Wiederbelegung von Leerstand wird zu einer finanziell erheblichen Herausforderung.
Gerade kleinere, überwiegend ehrenamtliche geführte Einrichtungen wissen nicht, wie sie notwendige Sanierungen stemmen sollen. Gibt es Pläne von Seiten der Beauftragten der Bun­desregierung für Kultur und Medien für eine nachhaltige Investitionsförderung?

Die soziokulturellen Einrichtungen leisten echte Pionierarbeit bei der Umnutzung von Leerstand oder von Brachen für zivilgesellschaftliche Aktivitäten – das ist gelebte Nachhaltigkeit, die Soziokultur ist hier ein wichtiges Vorbild. Grundsätzlich gibt es einen hohen Investitionsbedarf in unserem Land, den wir an viel zu vielen Stellen teilweise sehr schmerzhaft spüren. Die Bundesregierung ist sich dieses Problems bewusst, das anzugehen ist eine unserer zentralen Aufgaben. Deshalb wurde auch der Klima- und Transformationsfonds eingerichtet: Wir stellen gewaltige Beträge zur Verfügung, gerade weil wir um die Folgen von schlechter Dämmung oder alter Bausubstanz wissen! Grundsätzlich liegt die Zuständigkeit für die kulturelle Infrastruktur jedoch bei den Kommunen. Auch wenn dem Bund eine große Verantwortung für die ökologische Transformation unseres Landes zukommt, wird dadurch die föderale Struktur nicht außer Kraft gesetzt. Das gilt gerade auch für die Kulturhoheit der Länder. Fest steht: Nur gemeinsam, im engen Schulterschluss von Bund, Land, Kommunen und Zivilgesellschaft werden wir die großen Probleme unserer Zeit lösen. Die Bedeutung der Kultur und insbesondere der Soziokultur lässt sich dabei gar nicht überschätzen.

Beratung soll eine zentrale Aufgabe der geplanten Anlaufstelle „Green Culture Desk“ sein.

Der Bericht „Das braucht’s!“ hat unter ande­rem gezeigt, dass es einen großen Bedarf an Beratung zur Einführung eines systematischen Nachhaltigkeitsmanagements gibt. Wird die An­laufstelle „Green Culture Desk“ des Bundes für ökologische und nachhaltige Transformation des Kultur­ und Medienbetriebs eine Adresse sein, an die sich soziokulturellen Einrichtungen bald direkt wenden können?

Ja, Beratung soll eine zentrale Aufgabe der geplanten Anlaufstelle sein. Dabei spielt auch das „Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien“ eine wichtige Rolle, das von meinem Haus schon heute gefördert wird. Inzwischen arbeitet das Aktionsnetzwerk mit vielen Partnern in ganz Deutschland zusammen, um den ökologischen Fußabdruck von Einrichtungen zu minimieren und Transformationsmanager*innen auszubilden. Dieses Angebot wird mit der Anlaufstelle nun deutlich ausgebaut und durch weitere Aktivitäten flankiert.

Die Anlaufstelle soll dabei unabhängig agieren. Das bedeutet: Wir werden sie verlässlich fördern, sie soll aber auch Spielräume für eigene Initiativen und weitere Unterstützerinnen und Unterstützer erhalten, um ihren Aktionsradius immer weiter auszubauen. Wir finanzieren also die „Grundausstattung“, damit die Anlaufstelle ab 2023 wie geplant weitere Module anbieten kann. Wir freuen uns dann über jeden weiteren Partner, der seine finanzielle und fachliche Expertise anbietet. Auch alle Kulturschaffenden, die einen Beitrag zur ökologischen Transformation unseres Landes leisten wollen, sind herzlich willkommen. Für 2023 planen wir in diesem Zusammenhang drei Regionalkonferenzen, bei denen wir über die konkreten Erwartungen an die Ausgestaltung der Anlaufstelle diskutieren werden.

In den ländlichen Räumen sind soziokulturelle Einrichtungen oftmals der einzige Ort für Aus­tausch, Begegnung und kulturelle Teilhabe. Durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien wurden 2020/21 mit dem Sofortprogramm LAND INTAKT 147 soziokulturelle Zentren, Kulturhäuser sowie Kultur­ und Bürger­zentren mit 2,76 Millionen Euro aus Mitteln des Bundesprogramms Ländliche Entwicklung un­terstützt, um dringend notwendige Maßnahmen zur Instandsetzung der Häuser durchzuführen. Die Dankbarkeit der geförderten Einrichtungen war riesengroß, da LAND INTAKT so passgenau auf sie zugeschnitten war und damit auch viel Wertschätzung für die Häuser und ihre wichtige Arbeit von Seiten des Bundes zum Ausdruck ge­bracht wurde. Was halten Sie von einem LAND INTAKT Nr. 2, um weiteren dieser Einrichtungen die Möglichkeit zu geben, sich zu grundlegend zu erhalten und zu modernisieren?

LAND INTAKT war ein erfolgreiches Projekt, das von meinem Haus gefördert und vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft finanziert wurde. Diese Initiative war als reines Modellprojekt konzipiert, deshalb ist keine Fortsetzung oder Verstetigung geplant. Ich danke dem Bundesverband Soziokultur und allen beteiligten soziokulturellen Zentren und Akteuren ausdrücklich für ihr Engagement. Durch LAND INTAKT konnten in ländlichen Räumen und strukturschwachen Regionen lebendige kulturelle Teilhabe und Orte der Begegnung erhalten werden. Auch dieses Projekt hat gezeigt, wie wichtig Kultur für unsere Gesellschaft ist – denn sie vermag es, Identität zu stiften und Gemeinschaft zu bilden.

Der KulturPass kommt! Herzliche Gratulation zu dieser tollen Initiative, die der jungen Ge­neration ermöglichen soll, ihre Kultur vor Ort zu erleben. Bislang ist vor allem von Theater­, Konzert­, Kino­ oder Museumsbesuchen die Rede. Ungefähr ein Viertel der Nutzer*innen von soziokulturellen Einrichtungen sind jünger als 20 Jahre. Das Veranstaltungsprogramm und Angebote der kulturellen Bildung werden hier von jungen Freiwilligen mitgestaltet und sind somit sehr attraktiv für diese Altersgruppe. Wird der KulturPassauch für diese vielfälti­gen und niedrigschwelligen Angebote der Sozio­kultur einsetzbar sein?

Ja, selbstverständlich. Der „KulturPass“ besteht aus 200 Euro Guthaben. Und dieses Guthaben können die Jugendlichen auf einer digitalen Plattform einlösen: für Live-Kultur, physische Kulturprodukte wie Bücher und natürlich auch für Soziokultur. Die Veranstalterinnen und Veranstalter von Soziokultur müssen sich dafür nur auf der Plattform registrieren und dann ihre Veranstaltungen und Projekte dort anbieten. Die Registrierungsphase wird im März oder April beginnen. Ich möchte schon jetzt dazu aufrufen, dass möglichst viele Kultureinrichtungen gerade auch aus dem Bereich der Soziokultur mitmachen und diese großartige Chance nutzen.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in der SOZIOkultur 1/2023 Energie

Thomas Hartmann, Geschäftsführer der Stadtkultur Bremen, und Franziska Mohaupt, Referentin für Nachhaltigkeit beim Bundesverband Soziokultur, sprechen über soziokulturelle Wege aus der Klimakrise und über die positive soziale Energie, die dafür gebraucht und gewonnen wird.

Thomas  Hallo Franziska. Du bist ja seit dem Sommer 2021 unsere Nachhaltigkeitsreferentin beim Bundesverband Soziokultur. Was hast du denn davor gemacht?

Franziska  Ich war am Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung und habe mich dort mit Nachhaltigkeitsfragen befasst.

Thomas  Das hört sich ja eher theoretisch an.

Franziska  Ja, meine Forschungsprojekte endeten häufig mit Handlungsempfehlungen. Das ist gut und wichtig, aber mir hat das nicht mehr gereicht. Ich wollte das Thema lieber in der Praxis angehen. Ich möchte Organisationen bei ihren Transformationsprozessen unterstützen und begleiten. Also mit ganz konkreten Änderungen in den tatsächlichen Arbeitsabläufen und dazu auf Bundesebene in unserer AG Nachhaltigkeit. Das motiviert mich.

Thomas  Das war wirklich eine sehr gute Entscheidung des Bundesverbands, eine Stelle für Nachhaltigkeit zu schaffen …

Franziska  … Ja, aber das war ja nicht so, dass das ein neues Thema für die Soziokultur war. Ich konnte auf Vielem aufbauen. Es gab wichtige Projekte wie „Jetzt in Zukunft“, das sich bereits systematisch mit Nachhaltigkeit auseinandergesetzt hat. Es gibt viele Initiativen und engagierte Akteur*innen, den gemeinsamen Willen, etwas zu stemmen. Diese Haltung ist ein großer Pluspunkt – ich muss niemanden überzeugen, dass Nachhaltigkeit wichtig ist. Weniger präsent sind Instrumente und Strukturen, um Nachhaltigkeit systematisch in einer Organisation zu verankern. Damit meine ich so was wie Handlungsfelder, Indikatoren und Bilanzierung. Außerdem treibt mich um, dass der Handlungsspielraum in vielen Einrichtungen so klein ist. Dabei gibt es dicke Bretter zu bohren: Mehr als neun von zehn Einrichtungen heizen mit fossilen Brennstoffen, die allermeisten mit Gas. Viele würden gerne energetisch sanieren und mit erneuerbaren Energien heizen. Das sind große Investitionen für Eigentümer. Und Mieter*innen müssen erst einmal die Eigentümer überzeugen.

Thomas  Ja, das stimmt, aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir können nicht hoffen, dass es schon nicht so schlimm wird. Die Veränderungen sind in vollem Gange: Allein, das Klimakrisezu nennen, ist ein Euphemismus. Oder wie die Direktorin des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts Antje Boetius bei unserer Bremer Green-Culture-Tagung im September sagte: „Es geht schlicht ums Überleben!“

Franziska  Ja, klar: Ich finde es wichtig, was zu tun. Auch gegen dieses Gefühl der Ohnmacht. Aber es gibt ja durchaus auch eine gute Entwicklung. Als ich Mitte der neunziger Jahre Umwelttechnik zu studieren begann, war das noch etwas sehr Besonderes. Inzwischen hat sich die Anzahl von Studiengängen, die auf Umwelt und Nachhaltigkeit zielen, vervielfacht. Und wir haben ein Ministerium, das Wirtschaft und Energiewende zusammendenkt. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat uns überdeutlich vor Augen geführt, dass die aktuelle Wirtschaftsweise nicht funktioniert. Diese Erkenntnis kommt inzwischen auch bei Konservativen an. Die Energiewende und die radikale Dekarbonisierung der Produktion sind eben alternativlos.

Thomas  … Und dann werden die AKW-Laufzeiten verlängert, 100 Milliarden in die Aufrüstung gesteckt und unser grüner Umweltminister fliegt nach Katar wegen Flüssigerdgas. Über den Weltklimagipfel und das 1,5-Grad-Ziel will ich gar nicht erst reden …

Franziska  … Es gibt Momente, in denen ich mich tatsächlich am liebsten mit der Letzten Generation auf die Straße kleben möchte.

Die Frage ist nicht, ob, sondern wie wir auf den Klimawandel reagieren: Und hier spielt das Soziale eine der wichtigsten Rollen.

Thomas  Also, wenn du meinst. Mir wäre das zu masochistisch. Aber klar: Klima-Protest ist wichtig! Wenn ich daran denke, wie neulich eine Protestaktion für den Tod einer Berlinerin verantwortlich gemacht werden sollte, die mit dem Fahrrad unterwegs war und von einem LKW überfahren wurde, zeigt das doch sehr deutlich, wo unser Land politisch-gesellschaftlich steht. Hinsichtlich unserer Strukturen ist jedoch ein anderer Diskurs entscheidender: In der letzten Zeit habe ich in kulturpolitischen Diskussionen sowohl auf Bundes-, aber auch auf Landesebene immer wieder registriert, dass die ökologische Dimension von Nachhaltigkeit mit dem Hinweis auf die besondere Bedeutung des Sozialen oder der Existenzsicherung unserer Einrichtungen nach hinten geschoben wird. Klimaschutz und soziale Nachhaltigkeit werden so nicht nur gegeneinander ausgespielt. Vielmehr wird der Klimawandel so letztlich relativiert. Er findet aber statt. Die Frage ist also nicht, ob, sondern wie wir reagieren: Und hier spielt das Soziale natürlich eine der wichtigsten Rollen. Das sollte doch aus soziokultureller Sicht eh klar sein!

Franziska  So ist es. Dennoch ist Nachhaltigkeit angesichts der Tatsache, dass die Soziokultur prekär aufgestellt ist, tatsächlich ein hoher Anspruch. Prekär heißt ja nicht nur kein Geld, das heißt auch und vor allem, dass es an personellen Ressourcen fehlt. Fast alle sind permanent überlastet. Und die sollen jetzt auch noch Nachhaltigkeitsthemen managen? Ja! Weil es keine Alternative zu dieser Entwicklung gibt. Und im Kern ist nachhaltiges Organisationshandeln nicht unbedingt mit mehr Arbeit verbunden. Es geht darum, anders zu arbeiten.

Thomas  Das hört sich gut an. Und wie funktioniert das?

Franziska  Ein Beispiel: Vor einigen Wochen haben Hanne Bangert und ich einen Workshop zum Thema Nachhaltigkeit in Niedersachsen vorbereitet. Da stand genau das im Raum: Unsere Hebel sind ziemlich klein. Wo sollen wir die Reserven zum Umsteuern hernehmen? Wir haben den Workshop dann durchgeführt. In vier Stunden kamen mehr als dreißig Maßnahmen zusammen, die sich ohne unerträglichen Mehraufwand realisieren lassen. Damit ist der Anfang gemacht.

Thomas  Uns bleibt ja auch nichts anderes übrig, als überall und konkret mit unseren kleinen Hebeln und unseren Handlungen an den Dingen anzusetzen, die wir direkt beeinflussen können. Ist das getan, können wir uns den komplexeren Themen zuwenden und neue Verbindungen eingehen.

Franziska  Du hattest mal erwähnt, dass du das früher anders gesehen hast.

Thomas  Ja, ich habe mich in meinem Philosophie-, Soziologie- und Politikstudium vor allem mit Fragen emanzipatorischer Politik und Praxis beschäftigt. Allerdings kannte ich da Bruno Latour noch nicht. Durch die Beschäftigung mit seinem Handlungs- und Praxisbegriff haben sich bei mir frühere Positionen verändert. Latour geht von der Komplexität, Diversität und Heterogenität jeder Handlung aus und bestimmt Handeln als einen Knoten, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen: Deshalb der komische Ausdruck „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT). Handeln sei nicht lokal(isierbar), sondern stets verlagert, verschoben, dislokal, und ein Akteur sei nicht der Ursprung einer Handlung, sondern das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hinströmen. Die Handlungstheorie der ANT definiert Latour entsprechend als: jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun. Aber kommen wir doch wieder auf unseren konkreten Weg zur Nachhaltigkeit in der Soziokultur zurück: Wie kann dieser gelingen?

Die grundlegendste Bedingung besteht darin, sich überhaupt ernsthaft auf das Thema einzulassen.

Franziska  Zusammengefasst vielleicht so: Die grundlegendste Bedingung besteht darin, sich überhaupt ernsthaft auf das Thema einzulassen. Diese bewusste Entscheidung, verknüpft mit einem Workshop, der alle einbezieht und wo gemeinsam erste Schritte gegangen werden, ist der Startschuss für einen Prozess, der eigentlich niemals aufhört. Dabei mit offenen Augen und ohne Angst vor möglichen Fehlern systematisch entlang von Handlungsfeldern wie etwa Beschaffung, Energie und Gebäude die eigenen Arbeitsabläufe zu untersuchen und zu prüfen, wie sie geändert werden können, um weniger Ressourcen zu verbrauchen. Aus dieser systematischen Betrachtung gilt es, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln. Aus der täglichen Abarbeitung dieses Konzepts, wie klein die einzelnen Schritte auch sein mögen, ergibt sich die Erfahrung der Machbarkeit. Aus kleinen Erfolgen entsteht positive Energie für die nächsten Schritte. Ihr hattet in Bremen ja auch Erfolg mit der Beantragung der Koordinierungsstelle Klimaschutz.

Thomas  Ja, wir haben inzwischen die Koordinierungsstelle beantragt, aber genehmigt ist die noch nicht. Hintergrund ist die Richtlinie zur Förderung von Klimaschutzprojekten im kommunalen Umfeld, die Kommunalrichtlinie. Die Koordinierungsstelle soll unseren Mitgliedseinrichtungen zur Ansprache und Informationsvermittlung hinsichtlich der Möglichkeiten zur Reduktion von Treibhausgasemissionen zur Verfügung stehen. Sie soll bei der Initiierung und Durchführung von treibhausgasmindernden Maßnahmen begleiten und Finanzierungsmöglichkeiten entwickeln. Sie soll regionale fachliche Ansprechpartner*innen für die Umsetzung von Klimaschutzprojekten vermitteln. Der Bund zahlt 70 Prozent und das Land will den Rest übernehmen. Von solchen gemeinsamen Initiativen können unsere Kolleg*innen in anderen Bundesländern nur träumen.

Franziska  Ist dies möglich, weil Bremen so überschaubar ist, die Wege so kurz sind?

Thomas  Dass sich in Bremen die Akteur*innen alle kennen, ist natürlich von großem Vorteil. Deshalb passiert in Bremen auch sehr viel. Hinsichtlich des Klimaschutzes dürften jedoch die Klimaschutzziele des Bremer Senats entscheidend sein. Diese sehen für den Kulturbereich ein CO2-Reduktionsziel von 60 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 und von 95 Prozent zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2038 vor. Allerdings sind unsere 41 Einrichtungen keineswegs alle in Jubelschreie über das Angebot bezüglich der Koordinierungsstelle ausgebrochen. Das Angebot wurde zunächst sehr kritisch geprüft.

Franziska  Anfang November 2022 haben der Bund und die Länder sich darauf verständigt, den Härtefonds für Kultureinrichtungen in Höhe von einer Milliarde Euro aufzulegen. Zur Deckung der Mehrkosten für Energie (siehe: www.kulturfonds-energie.de). Das macht Mut. Dass er so notwendig ist, zeigt aber auch, wie vulnerabel Kultureinrichtungen aufgrund des Sanierungsstaus sind. Mich ärgert das. Denn Sanierungen auf die lange Bank zu schieben verhindert die Resilienz von Kultureinrichtungen; sie bleiben abhängig. Ein Fonds, der nur auf die Schließung der Energiekostenlücke zielt, greift viel zu kurz!

Kultureinrichtungen brauchen Investitionen in Nachhaltigkeit, damit sie resilienter werden. Das sind nicht nur Wärmedämmung und Fahrradständer, sondern auch Investitionen in die Menschen. 

Thomas  Ich stimme dir zu. Aber natürlich müssen die Häuser auch gut über den Winter kommen.

Franziska  Und dann? Wir haben keine Zeit, uns auf solch reaktiven Maßnahmen auszuruhen! An diesem Beispiel lässt sich doch sehr gut verdeutlichen, wohin die Reise gehen muss: Kultureinrichtungen brauchen Investitionen in Nachhaltigkeit, damit sie resilienter werden. Das sind nicht nur Wärmedämmung und Fahrradständer, sondern auch Investitionen in die Menschen. Die Soziokultur befindet sich mitten in einem Generationenwechsel. Die neue Generation möchte und kann sich nicht in dem Maße ausbeuten, wie es die Gründer*innen getan haben. Faire Bezahlung und langfristige Perspektiven sind so wichtig.

Thomas  Faire Bezahlung ist ja nicht nur bei uns in Bremen ein riesiges Thema im Kulturbereich – vor allem in der freien Szene. Erstaunlich ist, dass wir noch keine gemeinsame, tragfähige Strategie und Perspektive entwickelt haben. Wie stellt sich das für dich aus Bundesperspektive dar?

Franziska  Die Soziokultur ist eine wichtige Vermittlerin der sozial-ökologischen Transformation. Sie erreicht eine enorme Bandbreite in der Gesellschaft. In der Vermittlerrolle liegt ein Potenzial, das zu wenig anerkannt ist. Das muss sich ändern und hier müssen wir – und damit meine ich auch den Bundesverband – selbstbewusster eine fi- nanzielle Ausstattung für die Soziokultur fordern, die gute Arbeit und gute Arbeitsbedingungen ermöglicht.

Dieses Gespräch ist erschienen in der SOZIOkultur 1/2023 Energie

Energie haben oder nicht haben – das ist die brennende Frage, die und der sich die Soziokultur gegenwärtig auf vielen Ebenen stellt. Sie tut das in der ihr eigenen Weise: künstlerisch, kreativ, erfindungsreich und kooperativ und macht dabei fast vergessen, wie viel die gegenwärtigen Krisen mit all ihren Konsequenzen kosten. Doch auch wenn es manchmal so scheint, als sei die Soziokultur ein Perpetuum Mobile, das, einmal in Bewegung gesetzt, ohne weitere Energiezufuhr in Bewegung bleibt – sie ist es eben nicht. Umso beachtlicher ist darum, wie sie immer wieder – dank der unermüdlichen Power der Aktiven und Unterstützung von Förderern – Kraft aus ideenreichem und gemeinschaftlichem Tun schöpft und den nachhaltigen Wandel durch die Erzeugung von positiver sozialer Energie vorantreibt.

In der neuen Ausgabe der SOZIOkultur sprechen Franziska Mohaupt, Referentin für nachhaltige Entwicklung beim Bundesverband Soziokultur, und Thomas Hartmann, Geschäftsführer von Stadtkultur Bremen, zum Auftakt über soziokulturelle Wege aus der Klimakrise.

„Soziokultur ist gelebte Nachhaltigkeit“, so bringt es Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Interview auf den Punkt. Mit ihr haben wir über die Bedeutung von Soziokultur für den nachhaltigen Wandel, den „Green Culture Desk“ sowie über den „KulturPass“ gesprochen.

Wie Quartiersarbeit nachhaltig und partizipativ gestaltet werden kann, welche Werkzeuge und Gelingensbedingungen es gibt, damit beschäftigte sich die Jahres- und Abschlusskonferenz des Modellprojekts UTOPOLIS – Soziokultur im Quartier im Herbst vorigen Jahres. Die aktuelle SOZIOkultur gibt einen Überblick und stellt ausgewählte Aspekte wie nachhaltiges Veranstalten und Klimabilanz näher vor.

Das PORTRÄT widmet sich der Other Music Academy in Weimar, die mit dem „Innovationspreis Soziokultur. Wirksame Visionen für eine nachhaltige Zukunft“ des FONDS Soziokultur ausgezeichnet wurde. Außerdem gibt es beispielhafte EINBLICKE in umfassende Transformationsprozesse, zum Beispiel in der FABRIK in Freiburg und im Dortmunder Depot.

Dies und vieles mehr lesen Sie in der aktuellen SOZIOkultur.

Was so alles unter ein einziges Zirkusdach passen kann, erlebt man beim Circus MoMoLo in Jena: Zeitgenössicher Zirkus, internationale Festivals, Lesungen, Konzerte. Allem voran aber: Verschiedenste Menschen vereint durch Humor und Spiel.

Das Zirkusdach an der Saale im Jenaer Paradies vereint jegliche Kunstformen und Spielarten des zeitgenössischen Zirkus’: Artistik, Tanz, Musik. In den letzten Jahren hat sich der Circus MoMoLo darüber hinaus zu einem kulturellen Veranstaltungsort und damit zu einem öffentlichen Ort der Begegnung entwickelt. Vielfältige Formate finden hier statt – vom zeitgenössischen Zirkusgastspiel über Konzerte bis hin zu Lesungen. 2022 war dieser außergewöhnliche Ort der Soziokultur deshalb für den KULTURRIESE – Preis der Thüringer Soziokultur nominiert.

Doch nicht nur innerhalb Thüringens hat sich MoMoLo einen Namen gemacht: Das multikulturelle Team macht kleine Wunder und große Verzauberung weit über die Landesgrenzen hinaus möglich durch internationale Partnerschaften und gemeinsame Projekte mit Akteuren aus Belgien, Frankreich, Spanien, Finnland oder Palästina.

Ein Höhepunkt des Jahres ist seit 2018 das internationale Composé Festival für zeitgenössische Zirkuskunst und Musik. Es verwandelt Jena und die Region in einen eigenen Kulturkosmos, in dem nicht nur spektakuläre Shows gezeigt werden, sondern das Programm zum Mitmachen, Teilhaben und Diskutieren anregt.

Gesellschaftliche Fragen mit Zirkus als künstlerischem Mittel bearbeiten

In den Kursen und Workshops erleben Erwachsene und Kinder Spiel und Realität nebeneinander, können es wagen, sich Herausforderungen mit Phantasie und Imagination zu stellen, und erfahren Gemeinschaft ganz hautnah. Dabei nutzt MoMoLo Zirkus als künstlerisches Ausdrucksmittel, um auch gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen und zu bearbeiten. Jedes Jahr mündet die ganzjährige Zirkusarbeit mit Kindern und Jugendlichen in mehrere öffentliche Abschlussperformances, bei denen diese ihr Können und ihre Geschichten präsentieren.

MARTINA SAUERBREY, Trainerin für Clownerie, und FRIEDEMANN ZIEPERT, Geschäftsführer des Circus MoMoLo, stellen im Magazin SOZIOkultur (3-2020) eine ganz bestimmte Stärke des Circus MoMoLo heraus: Auf leichte, aber eindringliche Weise, schon für die Kleinsten erahnbar und für die Großen spürbar, schafft der Circus MoMoLo ein gesellschaftliches Kunststück: Er verbindet die unterscheidlichsten Menschen über das Lachen, er schafft Gemeinschaft und Zusammenstehen durch Humor. Martina Sauerbrey und Friedemann Ziepert drücken es so aus:

Humor – existenziell für gelebte Demokratie!

Wer kennt sie nicht, die rote Clownsnase? Doch was hat sie mit demokratischem Handeln zu tun? Und wie können wir dieser ungewöhnlichen Zeit mit dem begegnen, was sie verkörpert: Humor? Das Lachen über den Clown ist etwas, das im Innern unser Herz berührt und ein Nachdenken über uns selbst und die Gesellschaft anregt. Sein Spiel ist ein Spiegelbild unser selbst. Das Wesen der Clownerie ist das Antasten unserer persönlichen und moralischen Grenzen sowie das Lachen über unsere Schwächen und unser Scheitern. Der Schlüssel dazu ist unser Mitgefühl, denn die Emotionen des Clowns sind die unseren. Seine Darbietung lebt von Übertreibungen. Im Ausdruck seiner Gefühle und in seinem Handeln geht er ins Extreme und führt uns ganz nah an unsere Grenzen, aber überschreitet sie nie. Der Clown drückt in seinem Spiel oft eine tiefe Wahrheit aus, die wir dank seiner Unschuld annehmen und reflektieren können. Er nutzt die rote Nase als Maske. Sie erlaubt, alles zu sagen und zu zeigen. In Bezug auf Extremismus und Fanatismus überzeugt uns der Clown durch seine besessene Herangehensweise, dass beides immer zum Scheitern verurteilt ist.

Das clowneske Erproben von spielerischen Grenzgängen, die Reflexion und das ausgiebige Lachen darüber sind Grundlagen einer lebendigen demokratischen Gesellschaft. Darüber hinaus wirkt das emotionale Ausleben von Lebenssituationen im Spiel der Clownerie wie gute Psychohygiene. Es schafft es, auf humorvolle Art die Menschlichkeit hinter allem zu erblicken und Ängste und Bedürfnisse zu erkennen. Das Spiel des Clowns sucht einen tiefen Zugang zu sich und der Gesellschaft. Wir wünschen uns, dass viele Menschen diesen Zugang finden und die Welt dadurch leichter wird – in jedem von uns steckt ein Clown oder eine Clownin.

Der Text “Humor – existentiell für gelebte Demokratie!” von Martina Sauerbrey und Friedemann Ziepert ist im Magazin SOZIOkultur zum Thema HUMOR erschienen.

Schwarmwissen ist ein offener, monatlicher Online-Treff für die Geförderten des Programms NEUSTART KULTUR und alle Mitglieder des Bundesverbandes Soziokultur.

Die ersten beiden Treffen 2023 behandeln das Thema Nachhaltigkeit mit zwei Schwerpunkten. Das erste Treffen fand am 21. Februar 2023 statt unter der Überschrift “Ist digital besser? – Vergleich verschiedener Veranstaltungsformate mit Hilfe der CO2-Bilanz”. Im März geht es weiter mit konkreten Umsetzungsstrategien: Wie kann Nachhaltigkeit in der Organisation strukturell verankert werden?

21.03.2023 / 10-12 Uhr
Erste Schritte – Nachhaltiges Organisationshandeln

Wir werden euch einen Einblick in die Grundzüge des Nachhaltigkeitsmanagements geben, mögliche Maßnahmen in den einzelnen Handlungsfeldern vorstellen und einen Prozess zur Einführung eines Nachhaltigkeitsmanagements in einer Organisation skizzieren. In den angesetzten zwei Stunden ist genug Zeit für Fragen und Anregungen sowie für einen Austausch von Ideen.

Damit wir planen können, freuen wir uns über eine zeitnahe Anmeldung per E-Mail: zentren2@neustartkultur.de

Über diesen Link könnt ihr dem Zoom-Meeting beitreten:
https://us02web.zoom.us/j/83266981432?pwd=MWs0OW9FbGFpNis3eXZ3dmNMNjl0QT09

Meeting-ID: 832 6698 1432
Kenncode: 579055

Wie geht’s weiter?

30.03.2023 / 14-16 Uhr Förderung:

Zoom-Meeting beitreten:
https://us02web.zoom.us/j/87080407592?pwd=TGx1eWRNUHhOZjBkYW5iRUxBWFlEZz09

Meeting-ID: 870 8040 7592
Kenncode: 179271

20.04.2023 / 14-16 Uhr Arbeit

Zoom-Meeting beitreten:
https://us02web.zoom.us/j/88271780057?pwd=S0pDNDVDeEptN3JWYmxINm0rMmlhdz09

Meeting-ID: 882 7178 0057
Kenncode: 788334

23.05.2023 / 14-16 Uhr Strategien in der Krise

Zoom-Meeting beitreten:
https://us02web.zoom.us/j/83572039219?pwd=Mmt6UjV2TjlzRTUyd2ZsSlAwMmoxUT09

Meeting-ID: 835 7203 9219
Kenncode: 144145

22.06.2023 / 14-16 Uhr Stadt und Land

Zoom-Meeting beitreten:
https://us02web.zoom.us/j/81999513473?pwd=L05FamxpQ25PMHFrZENoYUpDYUwvZz09

Meeting-ID: 819 9951 3473
Kenncode: 710565

Wunschpunsch, Fußbäder und Glitzer fürs Gesicht: Anheimelnd und ungewöhnlich sollte es zugehen bei der Versammlung der Wünsche im Ringlokschuppen Ruhr. Bereits der Empfang der Teilnehmenden aus den soziokulturellen Zentren, freier Kulturszene, Politik und Verwaltung ließ aufmerken: Überall fanden sich Anregungen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Und so diskutierte man an der Handy-Einnäh-Station die Herausforderungen permanenter Erreichbarkeit, am Getränketresen tauschten sich die Menschen darüber aus, welche der zehn Tassen zum Mitnehmen am besten gefiel: „Danke an alle für die harten Jahre!“ oder doch lieber „Jünger, wilder, kreativer“?

Soziokultur neu denken!

200 Teilnehmende kamen am 26. Januar bei der Versammlung der Wünsche im Ringlokschuppen Ruhr zusammen, um über die Zukunft der Soziokultur zu diskutieren. Der experimentelle Zukunftskongress von Soziokultur NRW stand unter der Fragestellung: Was macht Soziokultur im 21. Jahrhundert aus? „Soziokultur neu denken!“ lautete der Untertitel der Veranstaltung und gab damit gleich die Richtung vor. Aufbruch, raus aus gewohnten Mustern! Zahlreiche künstlerische und performative Impulse zeichneten den Tag aus: Die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sibylle Peters hatte sie gemeinsam mit ihrem Team entwickelt und auf die soziokulturelle Szene zugeschnitten. Zudem erwartete die Teilnehmenden ein umfangreiches Workshop-Programm, für das elf Künstlerinnen und Künstler gewonnen werden konnten. Ihre Sessions bewegten sich zwischen Kunst und Aktivismus und zielten darauf ab, die soziokulturelle Praxis mit neuen Ideen zu inspirieren.

Die Begeisterung für die Arbeit, das überzeugte Eintreten für die Werte und Arbeitsweisen der Soziokultur lag über dem gesamten Kongress. Ein engagiertes Netzwerk fand hier zusammen, das sich austauschte über Fragen, die viele aktuell bewegten. Die Themen des Zukunftskongresses: die schwierige Finanzsituation der Zentren, der Sanierungsstau der Häuser, das komplexe Antragswesen, das vor allem den Neulingen und den kleinen Häusern in der Soziokultur schwerfällt. Doch auch die persönlichen Herausforderungen der Akteur*innen der Soziokultur kamen zur Sprache, wie die fehlende Anerkennung für die eigene Arbeit oder der Generationenwechsel, der gerade viele Häuser bewegt.

Strukturförderung und nachhaltige Sanierung drängende Anliegen der Soziokultur NRW

Die Arbeitsbedingungen der Soziokultur? Oftmals problematisch. Viele Zentren erhalten Unterstützung von den Kommunen, allerdings nicht alle und diese nur anteilig. Zwischen 30 % und 70 % der Kosten müssen von den Häusern in NRW selbst erwirtschaftet werden – ein hoher Anteil. Und so steht das Kümmern um die wirtschaftliche Basis der Zentren immer wieder den kulturellen, politischen und sozialen Aktivitäten im Weg, um die es eigentlich gehen sollte.

Eine Strukturförderung, die in Ländern wie Hessen, Baden-Württemberg oder Hamburg bereits erfolgreich etabliert wurde und dort für wesentlich bessere Ausgangsbedingungen sorgt, könnte hier Abhilfe schaffen. Die Forderung danach war ein zentrales politisches Anliegen der Versammlung der Wünsche. Auch eine nachhaltige Sanierung der Häuser stehe dringend an und müsse mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung versehen werden. Denn viele Zentren feiern bereits ihr 40. oder 50. Jubiläum. Da sie aber schon immer schlecht finanziell ausgestattet waren, ist der Sanierungsstau groß. Nicht mehr hinnehmbar, befand die Versammlung.

Manifest der Soziokultur NRW

Dass die Soziokultur ein Erfolgsmodell ist, war für viele der Anwesenden keine Frage. Die Soziokultur sei schon immer gut darin gewesen, Transformationsprozesse aufzugreifen und weiter voranzubringen. Umso wichtiger, dass ihre Stimme bei den gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen – Klimawandel, Energiekrise, Erstarken antidemokratischer Stimmen, um nur einige zu nennen – Gehör findet.

Damit dies mit Nachdruck geschieht, sollte auf der Versammlung der Wünsche ein Manifest entstehen. Bereits im Vorfeld hatte eine Reihe von Interviews mit Akteur*innen der Soziokultur stattgefunden. Die zentralen Aussagen daraus hatten Sibylle Peters und ihr Team in einen Textentwurf zusammengefasst, und dieser stand nun abschließend zur Diskussion. Moderiert durch das künstlerische Team wurden Passagen in Kleingruppen diskutiert, einzelne Aussagen verworfen, kollektiv an Formulierungen gefeilt. Schnell entspann sich eine lebhafte und überraschend präzise Diskussion über die zentralen Forderungen, auf die man sich verständigen wollte. Und schließlich war es da, das „Manifest der Soziokultur in NRW“.

Wir haben Ihre große Verantwortung in der Pandemie sehr wohl wahrgenommen. Danke für Ihren unermüdlichen Einsatz!

Die Staatssekretärin im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Gonca Türkeli-Dehnert, konnte den letzten gemeinschaftlichen Handschlägen am Text beiwohnen, als sie zur Versammlung der Wünsche hinzustieß. Rasch wurde das zweiseitige Dokument auf der Bühne ausgedruckt, mit den Unterschriftenlisten aus dem Plenum in eine poppig-glitzernde Mappe gelegt und ihr feierlich überreicht (siehe Foto).

„Wir haben Ihre große Verantwortung in der Pandemie sehr wohl wahrgenommen. Danke für Ihren unermüdlichen Einsatz!“, rief sie den Anwesenden zu. In ihrem Grußwort machte sie sich dafür stark, den Dialog zwischen Politik, Verwaltung und Soziokultur fortzusetzen. Im Jahr 2023 gehe es darum, die Förderkonzepte auf den Prüfstand zu stellen. Auch die Idee einer Strukturförderung werde wohwollend geprüft.

Kulturpolitisch stark: die Soziokultur in NRW

Kurt Eichler, Vorstandsvorsitzender des Fonds Soziokultur, drückte den Anwesenden ebenfalls seine Wertschätzung aus und zeigte sich begeistert von dem Tag. Er beglückwünschte die Szene in NRW dazu, dass das Kulturgesetzbuch des Landes Nordrhein-Westfalen die Soziokultur mit einem eigenen Paragraphen fest im Blick habe. Das sei anders als die Gesetzgebungen anderer Länder und ermögliche die notwendigen stabilisierenden Maßnahmen für die multifunktionalen Häuser.

Und so war die Versammlung der Wünsche vieles auf einmal: Diskussionsforum, Performance, Experimentierort für unterschiedliche künstlerische Formate und Bühne für politische Forderungen. Hervorragend geeignet, „um die Kraft und die Potenziale der Soziokultur herauszustellen“, freute sich Heike Herold, Geschäftsführerin von Soziokultur NRW. Viele dieser Fäden werden fortgeführt – nicht zuletzt im Dialog mit der Politik über eine strukturelle Förderung der Soziokultur auch in Nordrhein-Westfalen. Würde diese eingeführt, wäre ein Meilenstein erreicht. Die Versammlung der Wünsche hätte vielleicht ihren Anteil daran.

Gute Nachrichten für die stark belastete Soziokultur: Im Februar soll das dringlich erwartete Förderprogramm zum Kulturfonds Energie des Bundes starten. Bis zu einer Milliarde Euro wurde zur Unterstützung des Kulturbereichs aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds zur Verfügung gestellt. Der Bundesverband Soziokultur wiederholt seinen ausdrücklichen Dank an die Bundesregierung, an die Kulturstaatsministerin Claudia Roth und alle Bundestagsabgeordneten, die sich dafür eingesetzt haben.

Der Kulturfonds Energie wird als Bund-Länder-Kooperation umgesetzt und über die Strukturen des Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen ausgereicht. Die administrative Abwicklung erfolgt über die Kulturministerien der Länder.

Soziokulturelle Zentren können bis zu 80 Prozent ihrer Mehrbedarfe beantragen. Bei Kulturveranstaltenden wird der Energiekostenmehrbedarf über einen Festbetrag pauschal gefördert, gestaffelt nach der Kapazität des jeweiligen Saales, in dem die Kulturveranstaltung stattfindet.

Der Förderzeitraum des Kulturfonds Energie des Bundes erstreckt sich rückwirkend vom 1. Januar 2023 bis zum 30. April 2024 (Ende der Gas-, Wärme- und Strompreisbremse).

Vor Programmstart werden die Länder gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat zu einer Online-Informationsveranstaltung für interessierte Kultureinrichtungen und Kulturveranstaltende einladen.

Der Bundesverband Soziokultur empfiehlt nachdrücklich ein umfassendes Beratungsangebot besonders für kleinere, überwiegend ehrenamtlich betriebene Kultureinrichtungen anzubieten und dafür mit den Fachverbänden zusammenzuarbeiten. Soziokulturelle Einrichtungen sind generell personell unterfinanziert, in ihrem Veranstaltungsbetrieb nach der Pandemie in vielfacher Hinsicht noch immer stark belastet. Sie brauchen deshalb ein schlankes und leicht verständliches Antrags- und Abrechnungsverfahren, damit die Mittel flächendeckend abgerufen und eingesetzt werden können.

Ellen Ahbe, Geschäftsführung des Bundesverbands Soziokultur: „Gerade im europäischen Vergleich ist es wirklich beachtlich wie Kultur und im Speziellen die Soziokultur in Deutschland geschützt und unterstützt wird. Unsere umfassenden Erfahrungen mit der Weiterleitung von Bundesmitteln, insbesondere im Programm NEUSTART KULTUR, haben jedoch gezeigt, dass vor allem überwiegend ehrenamtlich getragene Einrichtungen, die nicht zuletzt in den ländlichen Räumen eine so bedeutsame Arbeit leisten, bei der Antragstellung und auch Abrechnung gut beraten werden müssen. Sie befürchten Rückzahlungen, die aus Unkenntnis des komplexen Zuwendungsrechts resultieren. Daher empfiehlt der Bundesverband Soziokultur dringend eine unbürokratische und leicht verständliche Antragsstellung. Auch in das Beratungsangebot sollte personell investiert werden. Es lohnt sich, denn es qualifiziert die Soziokultur, auch künftig Förderprogramme des Bundes zu nutzen.“

Der vollständige Text der Pressemitteilung der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien (BKM) kann hier nachgelesen werden.

Eine Blitzumfrage zur Energiekrise hat gezeigt, wie unterschiedlich es um Raumgröße, Heizmenge und energetischen Standard in den verschiedenen Gebäuden bestellt ist, die die Soziokultur nutzt. Auf politischer Ebene wird daran gearbeitet, notleidenden Kultureinrichtungen Heizkostenzuschüsse zu gewähren. Voraussetzung hierfür: Die Einrichtung muss ihren Heizbedarf reduzieren.

Wie es gehen kann, Heizbedarf zu reduzieren, ohne zu frieren? Hier einige Empfehlungen, wie Energie sofort und ohne oder mit geringen Investitionen eingespart werden kann:

Heizen:

Heizen und Lüften:

Warmwasser:

Im Gastrobereich:

Fenster und Türen:

Weiterdenken

Energieberatung ist der erste Schritt und Voraussetzung für weitere Förderungen:

Bei der Bundesförderung für Energieberatung für Nichtwohngebäude, Anlagen und Systemewerden Energieberatungen zur Erstellung von energetischen Neubau- und Sanierungskonzepten, Energieaudits sowie Contracting-Orientierungsberatungen für Nichtwohngebäude von Kommunen, gewerblich tätigen Unternehmen, freiberuflich Tätigen und gemeinnützigen Organisationen gefördert.

Hier geht es zur Beratung: https://www.bafa.de/DE/%20Energie/Energieberatung/Nichtwohngebaeude_Anla-%20gen_Systeme/Modul2_Energieberatung/modul2_ener-%20gieberatung_node.html

Ein gutes Beispiel war eine ganztätige Veranstaltung am vergangenen Wochenende in einer unbeheizten Scheune. Es wurden Decken und Wärmflaschen verteilt. Am Ende heizte vor allem das Musikprogramm ein, das alle in Be- wegung versetzte.

Kommt gemeinsam gut durch den Winter.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in der SOZIOkultur 3/2022 Nachbarschaften

Mit Kunst, Kultur und Bildung setzt QUARTIER Bremen den Fliehkräften globaler Krisen und ökonomischer Entwicklungen lebendige Nachbarschaften entgegen.

Weitblick

Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal, sagen die Bremer Stadtmusikanten und verlassen ihr Zuhause. Da sind sie nicht die Einzigen. In den 1970er und 1980er Jahren suchen neben den Ölkrisen auch die Werften-, die Stahl- und die Hafenkrise die Hansestadt heim. Abertausende, unter ihnen türkische Gastarbeiter, verlieren ihr Ein- und Auskommen. Besser Qualifizierte ziehen weg. Im gleichen Zeitraum treiben unter anderem Kriege und ein fanatischer Ajatollah in großer Zahl Menschen aus Sri Lanka, Marokko, dem Iran und von sonst wo nach Bremen. Dennoch sinkt die Einwohnerzahl binnen anderthalb Jahrzehnten um fast 70 000. Bürgerschaft und Senat beweisen in dem wilden Fahrwasser Weitblick. Sie verabschieden als eine der ersten Städte überhaupt einen Kulturentwicklungsplan. Darin richten sie ihren Fokus nicht nur auf die großen Tanker des bildungsbürgerlichen Kulturbetriebs, sondern auch ganz bewusst auf die soziale und urbane Peripherie. Sie schauen sich in anderen europäischen Städten mit ähnlichen Herausforderungen um. Paris schickt Animateurs culturelles in seine knirschenden Banlieues.

Bremen hat viele arbeitslose Akademiker*innen, darunter aber niemanden, den man auf der Stelle als Kulturanimateur*in losschicken kann. Studiengänge für Kulturvermittlung oder Kulturpädagogik gibt es an deutschen Universitäten noch nicht. 1988 legt der Kultursenator gemeinsam mit dem Arbeitsamt und der Volkhochschule ein Fortbildungsprojekt auf. Die 20 Teilnehmer*innen befassen sich darin von Kultur bis Pädagogik und Stadtentwicklung mit dem Wichtigsten, was sie brauchen, um in den sozialen Neubausiedlungen und Brennpunkten als Kulturanimateur*innen aktiv werden zu können. Drei der Absolvent*innen, eine davon die Sozialpädagogin Andrea Siamis, übernimmt 1990 der eigens zur Förderung der kulturellen Breitenarbeit gegründete Verein Kulturbüro.

Viel Armut, viele Brennpunkte, kaum oder keine soziokulturellen Netzwerke, keine Strukturen, auf die sich zurückgreifen lässt. In dieser Situation sind die drei frisch gebackenen Bremer Kulturanimateur*innen zunächst nicht mehr als ein winziger Keim, aus dem dann die QUARTIER gGmbH wächst.

Im Zeitraffer

Gemeinsam mit Künstler*innen und Kulturschaffenden gestaltet das Team Projekte der kulturellen Bildung nicht an zentralen Kultorten, sondern in Nachbarschaften, quer durch Altersgruppen, unterschiedliche Kulturen und soziale Schichten. Heute listet die Website eine Vielzahl von Unterstützer*innen, Kooperationspartnern, Preisen und Auszeichnungen auf.

Andrea sieht nach mehr als 30 Jahren den Weg dahin im Zeitraffer. Anfangs ist sie Organisatorin, Künstlerin, Buchhalterin, Drittmittelakquisiteurin – einfach alles in einer, durchlebt sie regelmäßig im Advent den existenziellen Elchtest ihrer vorsorglichen Kündigung. Keiner weiß, ob im nächsten Januar das Geld reicht. Inzwischen knüpft ein vierzehnköpfiges Team Knoten in einem gewaltigen Netzwerk aus Künstler*innen, Pädagog*innen, Einwohner*innen, Vereinen, Institutionen, Ämtern, Behörden. Der Senat finanziert die Basismittel für Personal, Miete und Ausstattung.

Inzwischen gilt als beispielhaft, wie friedlich Menschen aus 90 Nationen miteinander leben.

Zu Beginn der 1990er Jahre wird in Tenever, der Hochhaussiedlung, die Andrea zum Mittelpunkt ihres engagierten Lebens gewählt hat, mit ganzen Wohnblocks Monopoly gespielt, ist der Stadtteil durch Armut, Verwahrlosung und Ausgrenzung geprägt. Heute sind viel mehr als nur die Wohnblocks saniert. Immer noch braucht jede*r Dritte der 10 000 Einwohner*innen Transferleistungen. Doch inzwischen gilt als beispielhaft, wie friedlich die Menschen aus 90 Nationen, zu zwei Dritteln mit Migrationshintergrund, zu einem Drittel jünger als 18 Jahre, miteinander leben. Ein anregender, ein inspirierender Schmelztiegel der Kulturen. Andrea erinnert sich an die Iraner und Tamilen während der frühen 1990er. Sie sind mit Geld und Bildung gekommen, erkennen die Projekte sehr schnell als eine Möglichkeit der Integration und persönlichen Entwicklung. Manche von ihnen schicken ihre Kinder zum Studieren nach Amerika. Die später hier eintreffen, bringen neben existenzieller Not manches Tabu mit, auch patriarchale, einseitig enge Weltbilder. Eine aus Kasachstan eingebürgerte Russlanddeutsche begegnet einem Tamilen und ruft erschrocken:

„Huch, ein schwarzer Mann!“ Egal, ob die Menschen hier mit Wolle und Mode arbeiten, kochen, tanzen, Theater spielen, malen oder musizieren, sie lernen einander in aller Unterschiedlichkeit zu respektieren, indem sie gemeinsam ihre Umwelt gestalten. Und nein, man mag sich das Mikroklima von Tenever oder einem der anderen Bremer Brennpunkte wirklich nicht ohne die unzähligen soziokulturellen Projekte vorstellen.

Wertsachen

Auf die Frage, ob ihr die Teilnehmer*innen aus den Nachbarschaften Widerstände entgegensetzen, antwortet Andrea: „Nein, gar nicht, sie sind mindestens so aufgeschlossen wie bunt. Vorbehalte kommen eher aus der öffentlichen Verwaltung, aus kooperierenden Einrichtungen.“ Wer ihr da gegenüber sitzt, sind oft nicht direkt die geistigen Nachfahren von Alfons Spielhoff oder Hilmar Hoffmann. Sie haben auch nicht die inzwischen fast 30 Projektkataloge durchgeblättert oder den übergewichtigen Zwölfjährigen gesehen, der, statt sich allein vorm PC mit Süßigkeiten vollzustopfen, bei „Rhythm is it“ mitmacht und jubelt: „Ich wusste gar nicht, dass ich tanzen kann!“ Oder das kleine Mädchen, das hingebungsvoll zeichnet und malt, das sich zum Ende des Projekts schüchtern meldet: „Ich möchte gern weitermachen. Darf ich den Bleistift mitnehmen? Zuhause haben wir keinen.“ Zwar trägt der Senat die Basiskosten von QUARTIER Bremen, doch die Projektmittel müssen aus anderen Quellen herbeigeschafft werden. Also fängt Andrea wieder und wieder bei null an, den Wert und Sinn soziokultureller Arbeit zu erklären. Ihr Berufsalltag besteht aus hmzig Prozent Papageiendasein. Das ist mühselig.

Streiten, bitte

Doch wirklich Sorgen macht sie sich um eine andere Entwicklung. Die Arbeit mit Kindern nimmt im QUARTIER breiten Raum ein. Viele Pädagog*innen aus kooperierenden Schulen und Kitas sind daran beteiligt. Zu keinem Zeitpunkt zeigen sich auf Anhieb alle von den jeweiligen Projektideen überzeugt. Die Geister scheiden sich an der Frage, ob man Kindern die schwierigen Fragen von Leben, Tod, Sexualität und Gewalt zumuten darf. Viele sagen, das muss man. Die Kunst liegt eben im altersgerecht bestmöglichen Umgang mit den Themen. Manche äußern Bedenken. Zum Beispiel vor etwa zehn Jahren bei „Ich komme als Blümchen wieder“. Es geht da um Vergänglichkeit und Sterben. Das Projekt findet schließlich statt. Mit an die 40 Künstler*innen und Musiker*innen aus verschiedenen Kulturen an der Seite der Kinder verläuft es genauso bunt und lebendig wie alle anderen.

Die Geister scheiden sich an der Frage, ob man Kindern die schwierigen Fragen von Leben, Tod, Sexualität und Gewalt zumuten darf.

Während der letzten drei, vier Jahre spürt Andrea eine deutliche Zunahme von Bedenken angeblicher Unzumutbarkeit. Sie sagt: „Dabei haben die betreffenden Pädagog*innen gar nicht so sehr Angst, was sie etwa bei den Kindern anrichten. Sie fürchten sich vor den Eltern.“ Und sicher vor Shitstorms in sozialen Medien. Es schrillen alle Alarmglocken von Cancel Culture und zensurtypischer Schere im Kopf. Wie soll eine Demokratie existieren, die den Streit fürchtet? Wer nicht streitet, der ist unverbun- den, hat keine Beziehung, lebt aneinander vorbei, redet umeinander herum. Bestenfalls.

Allround

Nachdem er in einem der Projekte als Künstler mitgewirkt hat und die QUARTIER gGmbH 2013 einen neuen Geschäftsführer braucht, übernimmt das Uwe Martin. Er hat Bildende Kunst studiert, als Künstler gearbeitet, den Master für Kulturmanagement erworben, leitende Funktionen in mehreren privaten und öffentlich geförderten Einrichtungen ausgeübt. Er kennt sich in Kunst, Buchhaltung und Verwaltung aus, kennt Bremen und den Bremer Kulturbetrieb.

Auch aus persönlicher Erfahrung weiß er wie Andrea, welche große Bedeutung Kinder für gelingende Nachbarschaften haben. Sie knüpfen Verbindungen zwischen den Erwachsenen. Die Küchentische in den armen Vierteln sind mit schweren Sorgen beladen. Sitzen Kinder daran, auf deren Gesichtern der Abglanz der Kunstprojekte liegt, fühlen auch die Eltern, dass sie wahr- und ernstgenommen werden. Die Kinder bringen ungewohnte Themen mit und ermöglichen ihren Familien, sich ihnen zu öffnen. Das Projekt „FREI.RAUM“ mit seinem komplexen Ansatz liegt Uwe besonders am Herzen. Hier werden junge Frauen gefördert und zur Kreativität ermutigt, während ihre kleinen Kinder sich in guter Betreuung befinden. Die Frauen kommen miteinander in Kontakt, können in manchem Selbsthilfe entwickeln, finden beim Team offene Ohren und Beratung für alle Fragen von Kinderarzt und Familienhilfe über den Zugang zu einer Kita bis zu Problemen mit patriarchalen Strukturen.

Nach den Lockdowns

Die Zeiten der Isolation stellen auch für QUARTIER Bremen eine fast nicht aushaltbare Härte dar. Andrea erzählt von einer Ausstellung, die sie im menschenleeren Haus trotzdem auf die Beine stellen, die sie mit einer Drohne filmen und wenigstens via Bildschirm zu den Teilnehmer*innen bringen. Der Mangel an Begegnung bleibt trotzdem schmerzlich fühlbar.

Lange Wochen und Monate dürfen die Künstler*innen der Projekte nicht in die Schulen. Als die Türen sich endlich wie- der öffnen, strahlt ein Junge sie an: „Mein Herz leuchtet“, sagt er. Andrea findet es wunderbar, dass das Kind diesen Satz sagt. Im selben Moment ist ihr die seelische Dürre bewusst, die es während der Lockdowns erfahren musste. Wenig später spürt sie: Was sie an Kraft in einem Arbeits- leben verausgaben konnte, hat sie längst hergegeben. Jetzt kann sie einfach nicht mehr. Sie kündigt und geht in den Ruhestand. Das Team verabschiedet die letzte der Gründer*innen mit einer sehr liebevollen Feier. Nun ist sie weg, konsequent, ohne jedes Türchen zum Reinreden.

Kaum sind ein paar Monate ins Land gegangen, wird Uwe zum Ortsamtsleiter von Neustadt Woltmershausen gewählt, Dienstantritt am 1. August 2022. Das ist gut so. Soziokulturelle Sachkunde in der öffentlichen Verwaltung kann nur helfen. Uwe bleibt Partner von QUARTIER. In seinen Bereich fällt der Alte Tabakspeicher. Auf Initiative und in Regie von QUARTIER treten im Herbst über 100 Musiker*innen des Stadtteils in dessen neuen Räumen auf.

Das QUARTIER-Team muss sich neu sortieren. Was wünscht man ihnen? Viel Unterstützung, mehr Freude und Erfolg als Stress in den großen Fußstapfen der Vorangegangenen. Das verdienen sie.

Andrea Siamis war Mitbegründerin und bis 2021 Vorstandsmitglied und Gesellschafterin der QUARTIER gGmbH. Uwe Martin hatte von 2013 bis 2022 die Geschäftsführung der QUARTIER gGmbH inne. Er ist seit August 2022 Ortsamtsleiter des Stadtteils Neustadt/ Woltmershausen in Bremen.

 

Dieser Artikel ist erschienen in der SOZIOkultur 3/2022 Nachbarschaften