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11.08.2022

#NEWCOMER, Magazin SOZIOkultur, Porträt

Das Mikropol: Hohelied auf ein Mittendrin im Drumrum

Von: Dr. Edda Rydzy

Nach dem Abriss des Stadtteilzentrums wird eine ehemalige Bedürfnisanstalt zu einem preisgekrönten Dritten Ort umfunktioniert: das Mikropol. Das Team bringt gegen große Widerstände Freund­schaft und geteilte Lebensfreude in ein benachteiligtes Quartier in Hamburg.

Ein Blick auf die Karte von Hamburg zeigt: Die Herrschaft über den Stadtteil Rothenburgsort hat vor Jahrzehnten das Auto übernommen. Zum Gewirr aus Autobahn, Bundesstraßen, Zubringern, Abfahrten und sich reichlich kreuzenden anderen Straßen kommen noch jede Menge Gleisanlagen. Hier überdröhnen Motoren das Rauschen der hohen Bäume und nur einen Teil des Überflusses von Feinstaub treibt der Seewind davon. Vor der Grillbar my KÖZ sitzend blickt man quer über die Kreuzung und über die Dächer von PKWs hinweg aufs Mikropol. Hinter Bussen und großen Trucks verschwindet es. Wie das kleine flache Gebäude tief unterhalb von Laubkronen und den Dächern dunkelroter Klinkerblocks auf seiner Verkehrsinsel kauert, erinnert es an einen Schuhkarton. Seine Geschichte ist spektakulär unspektakulär. Bevor im Zweiten Weltkrieg Bomben das Arbeiterviertel fast vollständig zerstörten, gab es da genügend Fußgänger*innen mit gewissen Bedürfnissen. Eine öffentliche Toilette an genau dieser Stelle war nützlich. Dann nicht mehr. Der aktuelle Krieg wirft seine Schatten blaugelb auf das Rolltor an der Stirnseite. Große weiße Buchstaben verlangen: Leave no one behind.

Andocken

Auf dem Stückchen Grasland vor dem Mikropol stehen fest verankert Tisch und Bank aus derbem Holz.
An diesem sonnigen Mittwochnachmittag im Mai 2022 halten dort einige junge Männer in Arbeitskleidung einen Feierabendplausch. Manuel tritt auf die Bildfläche. Der Politikwissenschaftler arbeitet für eine deutsch-schweizerische NGO, die sich seit mehr als zehn Jahren für die Menschenrechte in Belarus und der Ukraine engagiert. Er dreht jetzt das Rolltor nach oben, gibt damit den Blick auf den kaum 30 qm großen Hauptraum des Mikropol frei. Vor zwei Jahren hat er bemerkt, dass sich hier etwas bewegt, wollte dabei sein und ist es seitdem. Unter anderem gärtnert er mit einer
Gruppe. Daher das Gras vorm Haus und das kleine Insektenhotel neben dem Rolltor. Jetzt stellt Manuel einen weißen Leuchtquader nach draußen. Darauf steht in den vier hier am häufigsten gesprochenen Sprachen OFFEN. Dann schiebt er eine Holzbank mit Rücken- und Seitenlehnen heraus, bringt mehrere farbige Kissen. Oliver, in diesem Moment noch ein komplett Fremder hier, schlendert von der Kreuzung heran, denkt ganz richtig, dass er das darf, und setzt sich. Ihn hat es erst im Januar von Heidelberg hierher verschlagen. Wie so viele sucht er: Kontakt.

50 Quadratmeter für viel Leben

Eigentlich sollten heute Lisa und Marius hier sein. Sie sind Architekt*innen, haben die Idee
vom Nachbarschaftsprojekt in der verlassenen Toilette mit auf den Weg gebracht. Dafür verliehen BAUHAUS und Spiegel 2018 den Jurypreis des Social Design Awards. Doch in diesen Tagen hat Corona die beiden erwischt. Also zeigt Manuel die bescheidenen 50 Quadratmeter Mikropol. Neben dem unmöblierten Hauptraum, in dem von Konzerten über Nachhilfe, Beratung, Ausstellungen, Diskussionen, Kino und Lesungen bis zu Geburtstagsfeiern wirklich alles – und alles! ehrenamtlich – stattfindet, gibt es einen kleinen Durchgangsbereich zur letzten Toilette. An der Wand stehen ein Kühlschrank und ein breites Regal voller Plastikboxen mit den Utensilien der einzelnen Interessen- und Arbeitsgruppen. Zwischen dem Hauptraum und der seitlichen Tür liegt ein kleiner Eingangsbereich. Darin können Stapelstühle aufbewahrt und auf einem großen Tisch vorübergehend Sachen abgelegt
werden. Das war‘s. Als die jungen Männer in Arbeitskleidung sich voneinander verabschieden und jeder seines Wegs geht, sagt Manuel, ja, der kleine Platz auf dem Gras zwischen den Bäumen, der ist bei den Leuten beliebt. Hier können sie miteinander sitzen, ohne für irgendwelchen Verzehr zahlen zu müssen.

Wilder Osten

Statt Lisa radelt dann Barbara herbei. In ihrem anderen Leben, wie sie sagt, arbeitet sie als Psychologin mit Geflüchteten. Ingo gesellt sich anstelle von Marius dazu. Der freiberufliche Journalist und Autor lässt inzwischen seit bald dreißig Jahren sein Herzblut für mehr Lebensqualität in diesem Quartier, hat die Initiative Hamburgs Wilder Osten mit gegründet und war einer der Aktiven der RothenBurg. So hieß das Stadtteilzentrum, das es hier zwischen 2008 und 2016 gegeben hat und das für neuen Wohnungsbau weichen musste. Ersatzlos. Während des Gesprächs geht Ingos Blick immer wieder zu den Leuten, die über die Kreuzung eilen oder an der nahen Haltestelle auf den Bus warten. Von denen trägt niemand einen der Anzüge oder eine der Designertaschen, aus denen gewöhnlich dicke Geldbeutel und goldene Kreditkarten gezogen werden. Die jährlichen Einkünfte der Einwohner*innen von Rothenburgsort liegen mit zirka 20 000 Euro gerade einmal halb so hoch wie der Durchschnitt von ganz Hamburg. Es gibt beinahe doppelt so viele Empfänger*innen von Sozialtransfers wie im Hamburger Durchschnitt. Auch wenn sich das gerade ändert: Politik und Verwaltung haben das Quartier lange vernachlässigt.
Das zeigen auch die Wahlergebnisse. Seit den 1990ern schleppen hier Republikaner, DVU, ProDM, Schillpartei und Nachkommende viel Zustimmung heim. Wer gesehen hat, dass es nichts bringt, aus Frust oder Verzweiflung rechtsextrem zu wählen, bleibt ganz zu Hause. Ingo spitzt zu: „Wir haben hier 9000 Einwohner*innen, 2000 gehen zur Wahl.“ Tatsächlich meldet der Wahlleiter der letzten Bundestagswahl für Rothenburgsort mit 59 Prozent die geringste Beteiligung von allen Hamburger Stimmbezirken und eines der höchsten extrem rechten Ergebnisse. Denkt das Bezirksamt womöglich, das macht nichts, geht von allein vorbei? Andernfalls müsste es ja jedes Fünkchen demokratischen Engagements mit all seiner Macht unterstützen.

Neue Ideen und Energie

Als das Bürgerzentrum RothenBurg damals geschlossen wird, machen ein paar Sofas kurzerhand den Markt zum Wohnzimmer. Engagierte und Aktivist*innen aus mehreren Gruppen und Initiativen reden und überlegen miteinander. Ingo ist zu dem Zeitpunkt ein bisschen müde und deprimiert. „Du läufst dauernd gegen das Bezirksamt, hast einen blutigen Kopf“, sagt er. Doch nun kommen junge Leute aus der Nachbarschaft, der Kunst, der Stadtentwicklung, der Wissenschaft. Sie bringen Energie und neue Ideen mit. Eine sehr lebhafte und interessante Sympathisant*innenszene entwickelt sich. Wunderbare Muntermacher*innen, nicht nur für Ingo. Er sagt: „Du läufst immer noch gegen das Bezirksamt, du hast immer noch Blut am Kopf. Aber du findest auch einen Weg um die Widerstände rum.“ Zum Beispiel hatte die SPD sich an die ehemalige Bedürfnisanstalt als Lagerort für Wahlplakate gewöhnt und mochte zunächst nicht gern davon lassen. Doch den Mikropol*innen gelingt es, einen öffentlichen Wettbewerb im Kontext von Kunst am Bau zu initiieren. Damit entscheidet weder Politik noch Verwaltung, sondern
eine unabhängige Jury: für das Konzept des Nachbarschaftsorts. Eine Woche lang picken die Mikropol*innen und ihre Freund*innen Kacheln von den Wänden, brechen die Wände der Klobuchten ein, schlucken Staub. Als sie denken, sie können loslegen mit neuem Putz und frischer Farbe, kommt ein Statiker des Wegs und sagt, dass nun Stützkraft fehlt. Es müssen ein paar Doppel-T-Träger eingezogen
werden. Die streichen sie so pink, dass man sie mit geschlossenen Augen sieht. 2019 eröffnen sie.

Mitmachen

Während Barbara und Ingo sich daran erinnernd noch lächeln, kommt Oliver von der gepolsterten Holzbank vorm Eingang rüber zur harten auf dem Gras. Er möchte gern auch mitreden. Kaum sitzt er, stellt Lydia sich dazu. „Lydia ist eine Anwohnerin, sie betreut das Lebensmittelregal an der rechten Außenwand, ohne sie würde es viel weniger sauber zugehen“, sagt Manuel. Das Foodsharing funktioniert prima. Geschäfte und Restaurants bringen, was übrig ist, auch Privatleute, die sich beim Einkauf verplant haben. Wer etwas braucht, kann es einfach nehmen, ohne einen Nachweis der Bedürftigkeit, wie die Tafel ihn fordert. Das Gespräch streift das Insektenhotel. Das muss möglichst bald an der Wand befestigt werden. Es gibt eine Bohrmaschine. Doch wer hat die gerade und wo ist sie bloß? „Kein Problem“, sagt Oliver, „ich mach euch das und ich bring eine mit.“

Ungleichnisse

Das Vorhandensein von Löchern ist ungefähr das einzige, was das kleine Insektenhotel mit der gewaltigen Orgel der Elbphilharmonie gemein hat. Aber ist es deshalb weniger bedeutsam? Als Symbol gemeinschaftlich praktizierten Willens zu Vernunft und Verantwortung? Sie seien den besser Betuchten und Eliten echt gegönnt, das Dress Up zur Premiere, das Entzücken über die Inszenierung von
„Whats Its Title“, das Promenieren im Foyer, der Smalltalk mit den Einfluss- und Kontaktreichen. Mögen sie auch wirklich gern regelmäßig die Beschaffenheit ihrer Moral im Spiegel richtig großer Kunst prüfen. Es macht ja Sinn, dass es Hochkultur gibt. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit muss dennoch gestellt werden. Im Blick auf die Finanzierung der Kultur im Allgemeinen und auf die der Soziokultur ganz besonders. Allein die Baukosten der Elphi schlagen mit 866 Millionen Euro zu Buche. Da ist noch keine Rede von Ausstattung und Unterhalt. Jahr für Jahr fließen weitere 13 Millionen Euro öffentliche Zuschüsse. In Rothenburgsort sind im Rahmen des Modellvorhabens „Mitte machen“ einmalig fünf Millionen Euro für ein neues Stadtteilzentrum in Aussicht gestellt worden. „Wir haben
wirklich alles gemacht, was das Bezirksamt von uns gewollt hat“, sagt Barbara, „inhaltliches Konzept, Beteiligungsprozess, Finanzierungsplan, einfach alles.“ Trotzdem wird nichts draus. Begründung: Die Einreichenden finanzieren sich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Projektförderung, sie können also keine finanzielle Sicherheit für die nächsten 20 Jahre nachweisen. Das kann niemand. Bei solcher Messlatte käme nie ein neues Projekt auf die Schiene, schon gar nicht in der Kultur.

Ausdauer und Witz

Die Mikropol*innen & Co. geben nicht auf. Sie engagieren sich weiter für ein neues Zentrum. Dass sie seit wenigen Wochen den Stadtteilkulturpreis samt großartiger Laudatio und 10 000 Euro besitzen, ermutigt dabei sehr. „Unser nächstes Projekt“, lacht Barbara den rundum rollenden Verkehr an, „heißt Urlaub auf der Insel“. Einfach unwiderstehlich. Und Glück für die Nachbarn, die Gesellschaft, die Demokratie.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in der SOZIOkultur 2/2022 Newcomer

Autor*innen

  Dr. Edda Rydzy freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit, Chefredakteurin der Zeitschrift SOZIOkultur

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