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14.11.2024

Aktuelles

Grußwort Mechthild Eickhoff, Geschäftsführerin Fonds Soziokultur e.V.

börse Wuppertal: Das große Einmaleins der Soziokultur

Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend Soziokultur.

Ich freue mich, hier stehen zu können und vermutlich teilen wir in dieser Woche mit dem Ergebnis der Wahlen in den USA und dem Zerbrechen der Regierungskoalition in Deutschland Verunsicherung, Wut, Trotz, Zynismus, vielleicht auch Optimismus.

Aber ganz sicher teilen wir auch, vielleicht nach etwas Aus- und Einatmen, das Bewusstsein für eine starke Verantwortung, eines Rückgrats der inneren kulturellen Demokratie.

Die einen sagen:
„Lass sie mal rumspinnen, sie werden schon auf den Boden der Tatsachen zurückkommen, Förderrealität, Kulturwirklichkeit, freiwillige Leistungen.“

Pavel Kosorin wird im Rahmen des heutigen Fachtags für einen Workshop zitiert, er sagt:

„Lass deine Phantasie arbeiten, die Realität passt sich an.“

Kommen wir also zu den Tatsachen zwischen Realität und Phantasie.

Herzlichen Glückwunsch zu 50 Jahren Soziokultur, Herzlichen Glückwunsch zu 45 Jahren Bundesverband Soziokultur, herzlichen Glückwunsch Börse Wuppertal zu ca. drei Jahren 50-Jährigen feiern.

Herzlichen Glückwunsch zum Reichtum allein an diesem Tag hier in Wuppertal.

Ich möchte mich stellvertretend für 12,5 Millionen Nutzer*innen sowie vor zigtausenden Kulturmacher*innen, Ehrenamtlichen, Größen der Kunst und Kultur aus Stadtvierteln, JVAs, Senior*innen-Häusern, Nachbarschaften, vergessenen Industrielandschaften, Dörfern, Ländern und Nationen tief verneigen.

Dies geschieht in vier Punkten:

1. Woher kommt das?
2. Leistungsbeweis
3. Schwachstelle
4. Vorstellungskraft

1. Woher kommt das?

Der einigermaßen westdeutsche Blick ist: Es geht vor 50 Jahren, also infolge der 1968er-Protest-Bewegungen darum, Strukturen und Definitionshoheiten neu zu denken und selbst in die Hand zu nehmen, bottom-up statt top-down. Kultur- und Kommunikationshäuser für Bürger*innen und Initiativen entstehen, Akteur*innen aus dem Stadtteil oder der Region reklamieren Räume fürs Selbermachen und Selberdenken, miteinander eigene Kultur machen, sich begegnen, politisch-kulturell aktiv sein.

Soziokultur, rückblickend so benannt, ist ein Konzept der 1970er Jahre, eine Demokratisierung der Kultur. Wir reden über den radikalen Wandel eines Kulturbegriffs: Jeder Mensch ist aktive Mitgestalter*in, ist Kulturträger*in und Kulturproduzent*in. Kunst von und mit allen.
Und dabei gibt es ein hohes Bewusstsein für Orte, die bereits Identifikation gestiftet haben. Denn zahlreiche soziokulturelle Zentren entstehen (bis heute) im Leerstand und tragen Kulturgeschichte in ihrem Namen, sie stehen für Ortsgeschichten:
Börse, Fabrik, Papierfabrik, Zinnschmelze, Spinnerei, Villa, Stapeltor, MOTTE, Färberei, Kulturbahnhof, Scheune, Schneiderei, Depot, Ringlokschuppen, Bunker, Brauerei, Altstadtschmiede, Steinhaus, Zeche, Lagerhalle, Lehngericht, Pumpwerk, Schlachthof, Fleischerei, Brotfabrik… Alte Polizei.

Warum also?

Weil Menschen Orte für Sichtbarkeit, Anerkennung, Begegnung und Spielraum suchen. Dafür, die Dinge anders denken und durchspielen zu können, als sie sind oder zu sein scheinen.
Klingt toll, ist toll. Ist hochprofessionell. Leider grätscht das haushälterische Kalenderjahr immer wieder empfindlich rein, wieder hinten anstellen bei der Mittelvergabe.

Nichtsdestotrotz:

Diese Idee hat sich bis heute professionalisiert; sie ist insbesondere dank des Bundes- und der Landesverbände viel besser verankert und wird durch sie immer wieder navigiert, qualifiziert und in den politischen Raum übersetzt – und umgekehrt. Soziokultur hat Modelle für die „Kulturelle Teilhabe“ und Mitwirkung von Menschen geliefert, die heute in Philharmonischen Orchestern (und ich sage nichts gegen Philharmonische Orchester und ihre wunderbare Arbeit) manchmal etwas mühselig kopiert werden; die Methoden und Perspektiven des „Audience development“ kommen aus der Soziokultur. Es sind im Rahmen der „Demokratisierung von Kultur“ neue Ausbildungswege, Berufsprofile, Persönlichkeitskarrieren, Standortfaktoren und Krisenkompetenzen entstanden.

2. Leistungsbeweis

Der Bundesverband Soziokultur arbeitet seit 45 Jahren, um diese Leistung der soziokulturellen Organisationen politisch sichtbar zu machen. Er ist, wie auch die Landesverbände, Akademie, Think Tank, Übersetzer, Kritiker*in und Anwältin zwischen Praxis, Theorie und Politik – unverzichtbar für hochwertige Arbeit auf allen Ebenen (und irgendwie ist man immer erstaunt, mit wie wenig Ressourcen die Verbände das leisten).

Ein seitens der Politik und Verwaltung sehr gefragtes Tool zum Beweis von Leistungen für und in der Kultur und Gesellschaft sind: Zahlen. Sie werden geliefert u.a. vom Bundesverband in substanziellen Erhebungen zum Umgang mit Nachhaltigkeit, Pandemien, Ressourcen.

Aus der Zahlenstatistik des Bundesverbands 2019 geht hervor:
Umwerfende 12,5 Mio. Besuche konnten die 566 Mitglieder des Bundesverbands Soziokultur zählen, die Zahl der Mitglieder ist aktuell auf 806 gestiegen. Diese Zentren hatten 2019 Gesamtausgaben von 205 Mio. Euro und erwirtschafteten knapp die Hälfte (97 Mio Euro) selbst. Sie verdoppeln also, was sie erhalten!

Ich füge noch die Zahlen des Fonds Soziokultur an:
Wir haben in diesem Jahr rund 1.500 Anträge im Volumen von rund 32 Mio. Euro erhalten, unglaubliches Potenzial noch im Dateiformat; fördern können wir rund 250 mit durchschnittlich etwa 20.000 Euro. Auch hier: Jeder Bundeseuro wird durch die Träger fast verdoppelt. Oder eben umgekehrt: Jeder Landes- oder kommunale Euro wird vervielfältigt.
Aber jetzt mal Hand aufs Herz: Wir haben Studien und Statistiken, wir wissen sehr viel über uns, wir liefern Zahlen, wissenschaftliche Evaluationen und zahllose Verwendungsnachweise.

Ist da noch eine Lücke, warum das nicht schon längst auskömmlich finanziert wird?
Was steht dahinter?
Wie sehen wir den Menschen?
als

  • Konsument*in
  • Steuerzahlerin
  • Wähler*in
  • Terrorgefahr
  • Titelgewinnerin
  • Pro-Kopf-Schweinefleisch-Verzehrer*in
  • CO2-Fußabdrücker
  • Bluthochdruck-Patient*in
  • ÖPNV-Versehrte

Könnte da stehen:
Jeder Besucher ist ein Ko-Produzent für das Zusammenleben, eine soziale Kulturträger*in…das ganze mal 12,5 Millionen Kulturerfahrungen.
Wer fragt nach unserem konstituierenden Verständnis des Menschen als kompetente*r Gestalter*in, und was dies für unser Zusammenleben bedeutet?
Könnten wir diesen Wert für das individuelle und soziale Gelingen ankreuzen, erheben, ermessen? Wann geht es uns als Menschen, als Gesellschaft gut?

3. Die Schwachstelle

Wir sind kritikfähig und kooperativ, wir denken mit und hören zu. Die Soziokultur agiert flexibel auf künstlerische, kulturelle und gesellschaftliche Unruhe, Disruption, Herausforderungen. Wir stellen unsere Arbeit transparent dar (siehe Leistungsbeweis), oft auch infrage und nehmen Gespräche ernst, also wir wähnen uns auf Augenhöhe.
Das tun wir nicht nur in den so genannten Förderprojekten mit den Beteiligten, sondern auch im Gespräch mit Politik, Verwaltung, Förderern. Wir haben auch hier ein kooperatives Gestaltungsverständnis.

Aber das Zuhören und Einfühlen macht uns an dieser Stelle möglicherweise angreifbar und zwar auf der Ebene von nachhaltiger Anerkennung und Unterstützung.
Sollten wir uns stur hinstellen und behaupten: KEINE GEGENFRAGEN, wir verhandeln nicht, wir machen ALLES RICHTIG und IMMER DAS GLEICHE.
Anpassungsfähigkeit, Wendigkeit und Spartenvielfalt wird uns manchmal als Beliebigkeit ausgelegt. Wir stellen uns nicht stur hin; wir übernehmen Aufgaben mit, die unlösbar erscheinen.
In jedem Unternehmen wären wir die hochdotieren Krisen- und Stresstest-Profis, außerdem Innovationslabor.
Warum ist es dann nicht wie im Bewerbungsgespräch:
Ihre größte Schwäche?
Genau die Stärke, die in Ihrem Betrieb noch fehlt.

4. Vorstellungskraft

„In the light of the big, and often disorientating, transformations that our societies undergo, arts and culture are where we find meaning, critical reflections on the past and the present, and compelling images of the future.“
„Angesichts der großen und oft verwirrenden Veränderungen, die unsere Gesellschaften durchlaufen, sind Kunst und Kultur die Orte, an denen wir Sinn finden, kritische Reflexionen über die Vergangenheit und die Gegenwart sowie überzeugende Bilder von der Zukunft.“
Aus: The State of Culture report published – Culture Action Europe

Und das möchte die Soziokultur allen zugänglich machen, den Genuss sich produktiv und fantasievoll auseinanderzusetzen und Gegenwart und Zukunft zu entwerfen. Soziokultur öffnet die Beglückung, sich etwas vorstellen zu können und dies als Kraft sehr ernst zu nehmen.

Die große Verneigung richtet sie an diejenigen, die der Fantasie und Vorstellungskraft einen Raum geben, sie ist Voraussetzung für Veränderung und Empathie. Die große Verneigung gilt Kulturschaffenden und Kulturmanager*innen und auch Fürsprecher*innen in Verbänden, Politik und Verwaltung.

Die Soziokulturschaffenden stehen in der ersten Reihe mitten in der Gesellschaft, sind nicht nur Seismografen für soziale und wirtschaftliche Effekte, sondern gehen mit allem, was global geschieht und sich in jedem Kopf und Herzen wiederfindet, lokal um. Sie nehmen Risiken auf sich, nicht nur, weil sie sozusagen in die Epizentren von gesellschaftlich-kulturellen Herausforderungen gehen, sondern auch, weil sie noch viel zu häufig selbst beruflich-finanziell prekär agieren müssen.

Die Räume für Vorstellungskraft in der Gesellschaft zu öffnen, braucht bezahlte Zeit und nachhaltige Anerkennung.

In allen schwierigen gesellschaftlichen Aufgaben ist es vonnöten, dass Neugier und Offenheit für ein wertfreies Mitgerissen-Werden erhalten bleiben. Kunst und Kultur/en von Menschen berühren im besten Falle, sinnlich, menschlich. Es ist angesichts des allgemeinen Drucks und des Rufes nach schnellen Lösungen, einer „harten Hand“ unbedingt notwendig, diese Freiräume der Kunst und der Vorstellungskraft für alle offen zu halten, sonst gehen wir gesellschaftlich, also menschlich, vor die Hunde.

Pavel Kosorin sagt: „Lass deine Phantasie arbeiten, die Realität passt sich an.“

Es ist richtig und es ist schön, das zu feiern! Und es sollte laut werden.
Herzlichen Glückwunsch.

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